Gemma
Ich werde sie notfalls mit meinem Leben
verteidigen.«
Gemma lachte. »Das würde ich niemals von dir verlangen.«
»Ich weiß.«
Für einen langen Moment sahen sie sich in die Augen, als wollten
sie sich die Gesichtszüge des anderen genau einprägen, bevor Brad zurücktrat.
»Ich hole die Stiefel und noch einige Dinge,
die Ihr brauchen werdet.« Er ließ sie im Gang stehen und erklomm die schmalen
Sprossen der Leiter, während er mit den Tränen kämpfte, die er Gemma nicht
wollte sehen lassen. Als er einige Minuten später wieder zurückkehrte, hatte
er sich wieder in der Gewalt.
»Danke«, wisperte Gemma, als er ihr die Stiefel reichte. Sie zog
sie an. Sie waren ein wenig zu groß, aber ansonsten ziemlich bequem. Sie
gingen ihr fast bis zu den Knien und verbargen so ihre Strümpfe.
Als sie ihr Kleid zerschnitten hatte, hatte
sie auch gleich ihre Unterhosen abgeschnitten und als Unterwäsche angezogen.
Sie fühlte sich viel wohler, jetzt, wo der raue Hosenstoff nicht mehr direkt
auf ihrer Haut scheuerte. Die Bandagen über ihrer Brust schützten ihre zarte
Haut gegen die Reibung des Hemdes. Gemma krempelte die Hemdsärmel auf, bis sie
lose um ihre Handgelenke lagen.
Brad band ihr Haar mit einem Lederband zusammen, dann setzte er
ihr eine Mütze auf.
»Das sollte reichen. Ihr solltet Euer Haar allerdings nicht allzu
oft waschen. Es leuchtet im Sonnenlicht wie ein Heiligenschein, und es gibt
Männer, die sich nicht von Frauen, sondern von kleinen Jungen angezogen fühlen.
Und Ihr seid ein ganz reizender kleiner Junge, also versucht nicht allzu gut
auszusehen, hört Ihr?«
Gemma nickte, obwohl ihr der Sinn seiner Warnung nicht ganz klar
war.
»Ja.«
»Hier.« Brad gab ihr einen Beutel, den sie über die Schulter
tragen konnte. Er war nicht leer.
»Was
ist da drin?«
»Seht nach.«
Gemma öffnete den Sack. Drinnen fand sie Brot und Käse, eine
Flasche Wein und Brads Messer.
Vorsichtig nahm Gemma das Messer heraus. »Brad, das kann ich nicht
annehmen. Du wirst es noch brauchen.«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Ihr es sehr viel dringender
brauchen werdet als ich. Ich hoffe nur, Ihr habt nicht vergessen, wie man es
richtig benutzt.«
Gemma schüttelte langsam den Kopf und wog das Messer in der Hand.
»Bei der erstbesten Gelegenheit solltet Ihr eine Möglichkeit
finden, es am Körper zu tragen«, fuhr Brad eindringlich fort, »sodass Ihr es
immer griffbereit habt. Versprecht mir das.«
»Ja, das werde ich.«
»Gut, ich könnte den Gedanken nicht ertragen,
dass Ihr ganz ohne Schutz da draußen seid. Nicht, dass das hier sehr viel ist.«
»Danke, Brad. Es ist mehr als alles, woran ich
gedacht hätte.«
»Nur noch eins.« Brad zog Gemmas Fernglas aus seiner Hosentasche.
»Das hier habt Ihr oben vergessen. Ich dachte, Ihr wolltet es vielleicht
mitnehmen.«
»Oh ja. Das hatte ich ganz vergessen. Danke.«
Sorgfältig verstaute Gemma das Fernglas in ihrem Reisebeutel und
schlang ihn sich über die Schulter.
»Habt Ihr überhaupt Geld?«
»Ich habe einige Pfund und die Kette, die Sir Godfroy mir
geschenkt hat. Ich denke, es ist nur gerecht, wenn ich sie verkaufe. Und
außerdem«, ihr Blick fiel auf ihren Ringfinger, »kann ich auch noch meinen Ring
verkaufen.«
Gemma schluckte die Tränen hinunter, die ihr die Kehle zuschnüren
wollten. »Ich glaube kaum, dass ich ihn noch benötige.« Entschlossen zog sie
sich den Ring vom Finger und ließ ihn in ihre Tasche gleiten. Dann straffte sie
die Schultern und sah Brad an. »Damit komme ich jedenfalls nach London und kann
auch einige Zeit davon leben, bis ich Heuer auf einem Schiff finde.«
»Viel Glück, Gemma.«
»Dir auch viel Glück, Brad. Ich werde dich
vermissen.«
»Ich werde Euch auch vermissen.« Brad beugte sich vor und presste
einen kurzen Kuss auf Gemmas weiche Lippen. Erschreckt sog Gemma den Atem ein,
aber Brad hatte sich bereits aufgerichtet und ging mit schnellen Schritten davon.
Bevor sie es sich doch noch anders überlegte,
öffnete Gemma die Stalltür und schlüpfte hinaus, nachdem sie sich vergewissert
hatte, dass niemand in der Nähe war. Sie rannte über den Rasen und dann die
Straße hinab zum Dorf, von wo die Postkutsche sie früh am nächsten Morgen nach
London bringen würde.
London
Kapitel 7
Niemand verschwendete einen zweiten Blick auf den zerlumpten Jungen, der
zusammengekauert auf einem Pfeiler hockte und mit müden Augen das Treiben an
den Londoner Docks verfolgte.
Ein Beutel hing über seiner linken
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