Gemma
gerechnet, die Börse wiederzusehen. Wäre dir ein Shilling als
Belohnung recht?« Seine Finger griffen bereits in die Börse, als der Junge den
Kopf schüttelte. Irritiert krauste Jessup die Stirn. Ein Shilling war eine
großzügige Belohnung, andererseits hätte der Junge die Börse auch behalten
können.
»Bitte, Sir, ich möchte anheuern.«
Jessup zog eine Augenbraue hoch.
»Hör zu, Kleiner«, teilte er dem Jungen mit, »unsere Mannschaft
ist komplett, und du erscheinst mir außerdem noch ein klein wenig zu jung, um so
eine lange Reise anzutreten. Deine Mutter würde sich bestimmt Sorgen machen.
Geh brav nach Hause und versuch dein Glück, wenn du ein wenig älter bist,
okay?« Damit drückte er dem Jungen einen Shilling in die Hand und wollte sich
abwenden, aber der Junge erwies sich als hartnäckig.
»Oh bitte, Sir«, flehte der Kleine und folgte
Jessup auf seinem Weg zum Schiff, »ich habe kein Zuhause und keine Mutter.
Ich habe niemanden ...« Die Worte waren immer leiser geworden, bis Jessup sie
am Ende kaum noch verstehen konnte. Er wandte sich um. Der Junge stand mit
hängenden Schultern da, den Blick niedergeschlagen auf das schmutzige
Kopfsteinpflaster gesenkt.
»Hör zu, Kleiner«, versuchte Jessup ihn zu trösten und
hockte sich vor ihn hin, um ihm in die Augen sehen zu können. »Du hast doch
bestimmt ein Zuhause, in das du zurückkehren kannst, oder?«
Unglücklich schüttelte der Junge den blonden Kopf, ohne den Blick
zu heben. Tröstend legte Jessup ihm eine Hand auf die magere Schulter. Er
konnte fühlen, wie der knochige Körper zitterte.
»Sieh mich an.«
Der Junge richtete unglaublich dunkelblaue
Augen auf ihn, denen unvergossene Tränen einen feuchten Schimmer verliehen. Der
Rand eines alten Veilchens war noch immer sichtbar, während die Schwellung und
Verfärbung um das andere Auge sowie getrocknetes Blut deutliche Zeugen einer
kürzlichen Auseinandersetzung waren. Ein leichtes Schuldgefühl erfüllte
Jessup. Anscheinend hatte der Junge um die Börse kämpfen müssen. Unter seinen
Händen befand sich nichts als Knochen, und die streichholzdünnen Ärmchen und das spitze Gesicht verrieten, dass der Kleine nicht
allzu viel zu essen bekam.
»Wie lange ist es her, seit du das letzte Mal was Anständiges
gegessen hast?«, fragte Jessup.
Das Bürschchen zuckte mit den Schultern. »'ne
Woche, vielleicht auch zwei«, antwortete Gemma ehrlich und hoffte, dass ihr
Magen nicht knurren würde. Beschämt schloss sie die Augen, als ihr Magen genau
diesen Moment wählte, um sie auf den eklatanten Nahrungsmangel aufmerksam zu machen.
Sie wagte es nicht, diesen Riesen anzusehen, der ihre Schultern noch immer mit
einem überraschend sanften Griff umspannt
hielt.
»Also dann, Kleiner, ich denke, es ist das Beste, wenn du erst mal
mit an Bord kommst, damit du mal was Ordentliches zu essen zwischen die Zähne bekommst.
Danach werden wir dann sehen, was wir mit dir anfangen, abgemacht?« Jessup
beobachtete, wie sich die zuvor noch so mutlosen Augen des Jungen mit Leben füllten.
»Erhoff dir nicht zu viel. Ich kann die Entscheidung nicht fällen,
ob du an Bord bleiben darfst oder nicht. Der Capt'n muss zustimmen, weil wir
schon einen Moses haben, verstehst du?« Das eifrige Nicken des Jungen
entlockte Jessup ein Grinsen.
»Aber Butch Harron, der Smutje, beschwert sich seit einer
Ewigkeit, dass er Hilfe in der Kombüse gebrauchen könnte.
Vielleicht kann ich da was drehen. Und nun
komm.«
Jessup Harper ging voran, den Laufsteg hinauf. Gemma folgte ihm.
Obwohl das Schiff dicht am Kai vertäut lag, klaffte für einen Moment unter ihr
der Abgrund mit dem schwappenden Wasser der Themse. Der sanfte Wellengang ließ
auch den Laufsteg leicht auf und ab wogen. Leichtfüßig brachte Gemma diese
erste Hürde hinter sich und betrat das Schiff.
Überall an Deck rannten Leute hin und her, beladen mit Kisten,
Fässern, Säcken, in einem augenscheinlichen Chaos. Aber als Gemma einen Moment
stehen blieb und sich umsah, erkannte sie, dass jeder eine bestimmte Aufgabe
erfüllte. Anscheinend wusste die Crew genau, was sie tat.
Jessup führte sie die schmale Stiege hinab zur
Kombüse. Ein massiger, gedrungener Kerl mit einer fleckigen Schürze –
offensichtlich der Smutje – drehte sich um und beäugte Gemma misstrauisch.
Sein Gesicht hatte die Form eines Pfannkuchens, mit einer platten Nase, die
anscheinend bereits mehr als einmal gebrochen worden war, und kleinen Augen,
die gegen das Licht blinzelten. Haare
Weitere Kostenlose Bücher