Gemma
führten.
»Gemma Victoria Edwards!«
Unwillkürlich schlossen sich ihre Finger fester um die Hand ihres
Vaters, die sie nicht einmal ganz umfassen konnte, als sie die scharfe Stimme
ihrer Erzieherin vernahm. Sie brauchte nicht erst an sich herunterzuschauen, um
zu wissen, was diesmal Miss Crumberwickles Missfallen erregt hatte. Ihre Schuhe
standen vergessen unter der alten Eiche, wo sie sie zusammen mit ihren
Strümpfen ausgezogen hatte, und bei einem gewagten Manöver beim Erklettern des
mächtigen Baumes war sie mit dem Saum ihres Kleides an einem Ast hängen geblieben. Sie hatte gehofft, den
entstandenen Schaden beseitigen zu können, bevor sie Miss Crumberwickle unter
die Augen trat, aber die Wiedersehensfreude bei der so unerwarteten, doch so
willkommenen Ankunft ihres Vaters hatte jeden Gedanken an Schuhe oder
zerrissene Kleider verdrängt.
Gemma starrte auf ihre bloßen Zehen hinab und bemühte sich ein
Seufzen zu unterdrücken, während sie zugleich versuchte, möglichst
schuldbewusst auszusehen. Sie wusste, dass ihre Strafe bei weitem nicht so
schwer ausfallen würde, wenn sie Miss Crumberwickle davon überzeugen konnte,
dass sie ihr unbedachtes und wenig damenhaftes Verhalten aus tiefstem Herzen
bereute.
»Gemma Victoria Edwards! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es
sich für eine junge Dame deines Alters nicht schickt, in diesem Aufzug
herumzulaufen.
Captain Edwards«, wandte sie sich dann an Gemmas Vater, den sie
bereits bei seiner Ankunft im Haus begrüßt hatte. Dabei hatte sie ihm
allerdings auch sogleich mitgeteilt, wie unangemessen Gemmas Benehmen noch
immer war, obwohl sie sich alle nur erdenkliche Mühe gab, sie zu bändigen.
»Ich wurde eingestellt, um Eurer Tochter die Umgangsformen der
besseren Gesellschaft zu vermitteln. Ich muss Euch aber davon in Kenntnis
setzen, Sir, dass Gemma sich jedem meiner Versuche, ihr sittsames Benehmen
beizubringen, widersetzt. Sir, ich sehe mich außerstande mit einem so undisziplinierten
und aufsässigen Kind zu arbeiten.«
Gemma holte tief Luft, um diesen ungerechtfertigten Vorwürfen zu
widersprechen, aber ihr Vater kam ihr zuvor.
»Miss Crumberwickle, wenn ich mich recht entsinne, seid Ihr in
erster Linie dazu eingestellt worden, meine Tochter zu unterrichten. Und mit
Unterricht meine ich nicht, wie sie am geziertesten eine Teetasse an die Lippen
führt oder am elegantesten einen Hofknicks ausführt.«
Gemma kicherte bei den Worten ihres Vaters, verstummte aber
augenblicklich, als er ihre Hand fester drückte.
»Ihr sollt Gemma das Lesen und Schreiben beibringen und sie in die
Geheimnisse der Mathematik einweihen. Ist sie während dieses Unterrichts auch
undiszipliniert und aufsässig?«
»Nein, wenn ich sie darin unterrichte, wirkt sie eher desinteressiert.«
Miss Crumberwickle spitzte missbilligend den Mund, was ihr das Aussehen einer
Feldmaus verlieh. Wieder musste sich Gemma das Lachen verbeißen, als sie diesen
Vergleich anstellte. Ja, mit ihren braunen Haaren und dem braunen Kleid sah
Miss Crumberwickle aus wie eine Feldmaus.
»Habt Ihr meine Tochter dahingehend ermahnt, Miss Crumberwickle?«
Gemma verzog das Gesicht, als sie an die »Ermahnungen« dachte. Sie
hatte jedes Mal zwei Tage lang Schmerzen beim Sitzen verspürt.
»Aber natürlich, Captain Edwards. Natürlich habe ich sie ermahnt.«
»Gemma«, wandte er sich an seine Tochter. »Stimmt das?«
Gemmas Erzieherin sog hörbar die Luft ein,
als Edwards es wagte, ihre Worte von seiner Tochter bestätigen zu lassen. Wie
konnte er es wagen, das Kind in dieser Sache um Rat zu fragen?
»Ja, Papa«, murmelte Gemma mit gesenktem Kopf. Als hätte sie es
sich plötzlich anders überlegt, sah sie ihn an. »Aber es war doch nur, weil der
Unterricht so langweilig ist.«
»Langweilig?«
»Langweilig?«
Beide Fragen erklangen gleichzeitig, Edwards' Stimme ruhig und
leicht überrascht, Miss Crumberwickles schrill und ungläubig.
Edwards' erhobene Hand brachte die Lehrerin zum Verstummen. Er
ging in die Hocke und legte seine großen Hände auf Gemmas Schultern. »Warum war
der Unterricht langweilig?«
»Weil ich das alles schon weiß, was sie mir
beibringen will. Das ist doch Babykram, was sie unterrichtet. Wenn ich ihr das
sage, schreit sie mich an, dass ich keine Ahnung davon hätte, wie man
unterrichtet. Das mag ja sein und ich will ja auch lernen, aber ...« Sie sah
ihren Vater traurig an. Wie sollte sie ihm das nur erklären, was sie lernen
wollte? Wie sollte sie ihm erklären, dass
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