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Gemordet wird immer

Gemordet wird immer

Titel: Gemordet wird immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Korber
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erste Nummer erneut. »Guten Tag«, meldete er sich. »Hier spricht Gleich, Dr. Gleich von der Ethikkommission der Universität. Wir überprüfen Vorwürfe gegen einen Dozenten. Sie besuchen eine der Veranstaltungen von Herrn Dr. Bulhaupt, richtig? … Ah, ja. Würden Sie sich für die Befragung durch eine Kommission in der nächsten Woche bereithalten, bitte? Ort und Zeit gehen Ihnen schriftlich zu. Und eine Einschätzung vorab: Würden Sie sagen, er hat sich Ihnen und anderen Studierenden gegenüber korrekt benommen? … Ah, ja? … Das ist ja interessant.«

19
    Zwei Stunden nervenaufreibender Telefongespräche später war Viktor dankbar, sich über die schweigende kleine Emily beugen zu dürfen. »Weißt du«, sagte er zu ihr, »es herrscht wenig Liebe unter den Menschen.«
    Er zog sie aus und wusch sie, so fürsorglich er konnte. Dann holte er die Kleider hervor, die ihre Eltern in eine rosafarbene Tasche mit aufgenähten Blümchen gepackt hatten: ein Höschen, ein besticktes Unterhemd, eine weiße Bluse, ein Cordsamthängerchen und geringelte Strumpfhosen, die er mit so viel Sorgfalt glatt und gerade zog, wie er nur aufbringen konnte. Am Ende fand er noch Haarspangen mit künstlichen Margeriten darauf, mit denen er ihr den Pony aus der Stirn klemmte. Am Ende konnte er nicht anders, er neigte sich über sie, um sie sacht auf die Stirn zu küssen.
    Im selben Moment wurde ihm schwindelig. Dann überkam ihn Übelkeit. Sein Magen revoltierte, von einer Sekunde auf die andere, und er schaffte es gerade noch bis zum Waschbecken, ehe eine Fontäne aus Schnittchen und Cola aus seinem Mund schoss. Er würgte noch, als sein Onkel hereinkam.
    Der betrachtete kopfschüttelnd erst ihn, dann die kleine Leiche. »Fast fertig«, stellte er dann fest und legte die Mappe weg, die er in den Händen gehalten hatte. Er nahm eine Nadel aus einem Lederetui. »Du nimmst den farblosen Faden«, kommentierte er. »Dann stichst du von unten durch das Kinn in die Mundhöhle, siehst du? Durch die Zunge, das Gaumendach und in die Nase. So.« Er verschnaufte. »Danach durch die Nasenscheidewand und wieder zurück in den Mundraum.« Wolfgang Anders hob den Kopf. »Viktor, siehst du überhaupt zu? Oder willst du ihren Mund so offen stehen lassen? Komm schon.« Er kommentierte die letzten Schritte und ließ Viktor den Faden durchschneiden.
    Dann klopfte er ihm auf die Schultern. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
    Viktor verzog das Gesicht. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn.
    Sein Onkel klopfte ihm erneut auf die Schultern. Dann drückte er ihm eine Mappe in die Hand. »Hier, was zur Erbauung. Die Lebenserinnerungen eines Pfarrers.«
    Viktor stand noch da, als sein Onkel schon längst wieder gegangen war. Langsam schüttelte er den Kopf. Aber es war wie bei einer Schneekugel. Statt ein klares Bild zu bekommen, wurde das Treiben der Flocken nur dichter. Assoziationen, Erinnerungen, Filmschnipsel, Liedzeilen, alles schwebte durcheinander. Dabei war es nicht möglich. Es konnte gar nicht sein. Denn er war als Kind niemals hier unten gewesen.
    »Vier«, quäkte Tobias. »Acht, sieben, null, sieben, fünf, drei.«
    »Schneetreiben«, erwiderte Viktor. Das endlich ließ ihn verstummen.

20
    Ich schreibe dies auf für meine Erben, dass sie damit verfahren, wie sie es für richtig halten. Einmal möchte ich ausgesprochen haben, was ich mein Leben lang mit mir herumtrug.
    Ich habe gekämpft, und ich bin unterlegen, das ist die bittere Wahrheit. Ich muss mir eingestehen, dass ich gescheitert bin. Und obwohl ich betonen möchte, dass die Gefühle, die mich leiteten, stets die allerbesten waren, dass sie wahrhaftig waren und tief, so weiß ich doch, dass es in manchen Augen eine Verfehlung darstellt, und ganz sicher in denen der Mutter Kirche, der ich Rechenschaft schulde. Ich weiß, meine Reue wird mich retten, und diese Beichte soll dazu ihren Beitrag leisten. Möge Gott mir vergeben. Es begann im Jahr 1979, während eines Ausflugs der Kinderbibelgruppe. Da war dieses Mädchen …
    Nein, dachte Viktor erschrocken und schob das Buch fort. Nein! Das will ich nicht wissen. Er wollte aufspringen, blieb dann aber sitzen. Unwohl und gequält zwar, doch er blieb. Er hatte plötzlich eine Ahnung. Und schließlich wäre seine Rückkehr umsonst gewesen, wenn er all den dunklen Ängsten und Geheimnissen auswich, die er in sich vergraben hatte. Also zog er die Blätter wieder zu sich heran. Und las. Und las.
    Es war schon dunkel, als Viktor

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