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Gemordet wird immer

Gemordet wird immer

Titel: Gemordet wird immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Korber
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das Konvolut zuschlug. Der Ton der Einleitung setzte sich seitenweise fort: halbe Bekenntnisse, wortreiche Entschuldigungen, heuchlerische Überlegungen zu Gnade und Seelenheil und zahlreiche Reflexionen über Pfarrer Bauer selbst. Nicht ein Gedanke an diejenigen, die zu seinen Opfern geworden waren. Opfer war allein der Mann. Opfer der Versuchung, wenn nicht gar der Verführung, Opfer der Sünde und bestenfalls einer entschuldbaren Schwäche. Der Ton war mal weinerlich, mal salbungsvoll. Aufrichtig war er nie. Viktor brauchte frische Luft.
    Seine Tante schien auf ihn gewartet zu haben »Ach, wie schön, du gehst spazieren!«, rief sie. »Könntest du mir einen Gefallen tun? Nimm Tobias mit. Er war heute noch gar nicht draußen, und nach diesem Erlebnis mit der Polizei war er so aus dem Gleichgewicht, er muss sich einfach ein bisschen bewegen.«
    »Jetzt, in der Dunkelheit?«, wandte Viktor ein.
    »Tobias geht meistens erst im Dunkeln raus. Zwanzig Uhr fünfunddreißig um diese Jahreszeit. Er mag es, wenn es ruhig ist. Und ihm gefallen die Lichteffekte.«
    »Ihm gefallen die Lichteffekte?«
    »Ja, vor allem, wie die Laternen sich in den Fenstern und dem Lack der parkenden Autos widerspiegeln.«
    »Tante Hedwig, du klingst wie ein Poet.«
    Sie errötete. »Du sollst dich nicht über deine arme Tante lustig machen, Viktor.«
    »Nein, nein«, er küsste sie rasch auf die Wange. »Ich dachte nur gerade an Haikus. Genau so fängt es nämlich an. Man beobachtet Dinge des Alltags, die sonst keiner bemerkt. Aber wir gehen ja schon, was Tobias?«, fragte er, zu seinem Cousin gewandt, der neben seine Mutter getreten war und keinen von ihnen ansah. Viktors Versuch allerdings, ihm auf die Schulter zu klopfen, wich er mit einer geschickten Bewegung aus. »Ich werde ihn schon sicher über die Straße bringen«, scherzte Viktor.
    »Links schauen, rechts, und dann wieder links, er vergisst das manchmal, wenn er etwas Neues entdeckt.« Seine Tante nickte.
    »Äh, klar«, erwiderte Viktor, der begriff, dass sein Scherz keiner war. »Sonst noch etwas, was ich beachten müsste?«
    »Eigentlich nein.« Sie dachte nach und nahm beim Aufzählen die Finger zu Hilfe. »Er soll auf dem Gehsteig bleiben, seinen Schal umlassen, nicht an Gartenmauern pinkeln und, ach ja«, sie strahlte Viktor an. »Achte darauf, dass er sich von den Mülleimern fernhält, ja?« Sie band sich die Schürze ab. »Ich habe noch so viel mit der Buchhaltung zu tun. Bis nachher, meine Lieben.«
    Ein wenig unsicher trat Viktor hinter Tobias auf die Straße. Ach was, sagte er sich, wie schwierig konnte ein Spaziergang mit einem Autisten schon sein? Viktor überlegte noch, für welche Richtung er sich entscheiden sollte, aber sein Cousin marschierte so zielstrebig in Richtung Innenstadt, dass er achselzuckend beschloss ihm zu folgen. Tobias würde seine gewohnte Strecke schon kennen. »Nun, Tobias, wie steht es, kleine Tour nach Downtown?«, rief er seinem Cousin zu. Er bekam keine Antwort und erwartete auch keine. Still liefen sie eine Weile nebeneinander her.
    Tobias’ Rhythmus war seltsam, er ging manchmal zügig, dann verharrte er abrupt ohne einen ersichtlichen Grund, blieb lange stehen, wiegte sich hin und her und murmelte etwas, bis er sich dann plötzlich wieder in Bewegung setzte. Viktor, der seinen Gedanken gerade freien Lauf lassen wollte, war es nur recht. Er passte sich einfach an.
    Als er einmal fast auf den abrupt anhaltenden Tobias auflief, fluchte er leise und befürchtete schon einen Anfall, stellte dann allerdings fest, dass sein Cousin seine Singerei gar nicht unterbrach. Aufmerksam geworden, lauschte Viktor. Spinne ich, dachte er, oder war das »Downtown« von Petula Clark?
    Unwillkürlich sang er ein paar Zeilen mit. Doch sofort schrie Tobias auf. »Nein, lass das!«
    »Darf ich jetzt nicht singen oder was?«, empörte Viktor sich.
    »Nicht singen, sing nicht. Er darf nicht singen, weil er nämlich nicht darf«, plapperte Tobias los.
    Viktor gab sich geschlagen. »Na gut, dann halte ich eben meine Klappe.«
    Tobias kicherte. »Klappe«, wiederholte er, »Klappe, Klappe, Klappe, Klappe, Klappe. Ich sage: Mappe.«
    »Und ich sage: Pappe«, bot Viktor an. Das schien in Ordnung zu sein, jedenfalls brach sein Cousin nicht wieder in Geschrei aus.
    Über Rappe, Kappe und Kaulquappe sowie einige weitere Reime retteten sie sich bis fast in die Stadt. An einer belebten Kreuzung wurde Tobias’ Aufmerksamkeit vom hell erleuchteten Fenster eines Drogeriemarktes

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