Gemordet wird immer
Stickerei kratzte, aber das ignorierte sie. »Hör mal, Viktor.« Ihre Stimme wurde nüchtern. »Es gibt tausend Gründe, warum ein Vater nachts aus dem Zimmer seiner Tochter kommen könnte.«
»Nenn mir einen.«
»Spinnen«, antwortete sie prompt.
»Miriam, ich spinne nicht.«
»Arachniden, Viktor. Achtbeiner. Mein Vater musste immer kommen, wenn ich bei mir im Zimmer eine fand. Er ist mehr als einmal nach Mitternacht mit einem Gurkenglas bei mir erschienen, um eine Spinne zu entsorgen.«
»Mein Vater hatte aber kein Gurkenglas bei sich.« Viktors Stimme troff vor Sarkasmus. »Und er schlich sich ganz heimlich heraus.«
»Vermutlich, weil er keinen wecken wollte, wenn es schon so spät war.«
Viktors Schweigen sprach Bände.
»Hör mal, Viktor. Vielleicht haben sie sich einfach unterhalten. Über irgendwas, worüber sie nicht mit den anderen sprechen wollte.«
»Nein, nein, nein«, brüllte Viktor. »Sie hat nicht mit ihm geredet, mit keinem, nur mit mir. Ich war ihr Vertrauter.«
»Wenn das so wäre, wüsstest du dann nicht, weshalb sie nicht mehr leben wollte? Viktor?« Miriam rief seinen Namen noch mehrere Male. Doch es antwortete ihr nur das Freizeichen. »Na super.« Sie warf sich zurück auf das Bett und zog die Decke bis zum Kinn. Die Digitalanzeige des Weckers zeigte eine neongrün leuchtende Vier. Sie war sich sicher, nicht mehr einschlafen zu können. Sie griff zu der Tasche neben ihrem Bett und zog ein rosafarbenes Büchlein hervor. Sie begann vorsichtig zu blättern und versuchte ein paar Stellen zu entziffern, was ihr schwerfiel, da das Büchlein rußverschmiert und halb verbrannt war.
24
»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Sabine Kesselring schlug die Beine übereinander und starrte Viktor misstrauisch an. Das Anliegen, mit dem er sich bei ihr Einlass verschafft hatte, wollte ihr nicht so recht einleuchten. »Ausgerechnet ich soll ein Gedicht für seine Beerdigung verfassen? Sind Sie sich sicher?«
Viktor hob entschuldigend die Hände. »Kundenwunsch«, brachte er knapp heraus.
Sie drückte ihre Zigarette aus. »Die Vorstellungen von Doktor Bulhaupt und meine eigenen gingen, was Haikus betraf, doch sehr auseinander. Er war ein völlig verknöcherter Traditionalist. Ein Naturgegenstand, eine Jahreszeit … ja Himmel!« Sie neigte sich vor. »Warum konnte es nicht auch mal etwas anderes sein, etwas Moderneres, etwas, was unsere Lebenswelt zum Ausdruck bringt, so, wie die Natur meinetwegen die Lebenswelt für diese mittelalterlichen Bauern bedeutet hat?«
»Ich weiß nicht …«
»Warum nicht ein Haiku über einen Toaster, hm? Oder über die Kaffeemaschine? Kaum einer schwingt mehr das Schwert oder betreibt Bogenschießen. Aber Millionen von Menschen bedienen jeden Morgen Kaffeemaschinen. Warum soll das keinen Eingang finden? Oder anders herum: Wie wollen wir unser Dasein denn ganzheitlich erfassen, wenn wir nicht auf das achten, was es ausmacht?«
»Wie zum Beispiel Kaffeemaschinen«, sagte Viktor. Er tat, als blicke er in seine Unterlagen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn’s denn so ist.« Ihre Stimme ließ ahnen, dass es auch interessantere Lebensinhalte gab.
»Im Kurs haben Sie allerdings von anderen Dingen gesprochen.«
Sie lachte, rau und nicht unsympathisch. »Sie hätten die alten Knacker mal sehen sollen. Wie die gezuckt haben, als das Wörtchen Tampon fiel. Das allein war die Sache schon beinahe wert.«
»Die Sache?«, fragte Viktor.
»Na, dass er mich rauswerfen wollte. Herrgott, hat der sich aufgeführt.«
»Ist er laut geworden?«
»Laut? Bulhaupt?« Sie lachte erneut. »Das ist nicht sein Stil, nein. Tödlicher Sarkasmus schon eher, wenn Sie verstehen, was ich meine. Hinrichtung durch das Wort, coram publico.«
»Das muss sehr verletzend gewesen sein.«
»Ich bin nicht empfindlich«, stellte sie klar, zündete sich eine neue Zigarette an, atmete den grauen Rauch aus und murmelte. »Der alte Sack.«
Viktor verkniff sich ein Grinsen.
»Ich hab ihn dann um ein Gespräch unter vier Augen gebeten.«
»Wie?«, entfuhr es Viktor.
»Ich bin immer dafür, den Stier bei den Eiern zu packen.«
»Und?« Viktor überlegte noch, ob es nicht Hörner heißen müsste.
Sie schaute ihn an. »Ich habe mit ihm geschlafen.«
»Ach drum, ich meine: Ja, aber …«
Sie lächelte. »Glauben Sie mir, es gibt kein besseres Mittel, einem Mann zu zeigen, wo sein Platz ist.« Sie räkelte lasziv ihre Beine. Als sie sein Gesicht sah, fügte sie harsch hinzu: »Sex ist Macht.
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