Gemordet wird immer
Schwamm drüber. Sie nahmen gleichzeitig einen Schluck und spülten den Geschmack des anderen fort. Die Distanz war so vollständig wiederhergestellt, dass ihnen sogar ein direkter Blick schwerfiel. Vertrautheit, dichtete Viktor bei sich, wie eine Fata Morgana kommt sie und vergeht.
Miriam unterbrach das Schweigen mit einer Bemerkung über die Wohnung.
Viktor zuckte mit den Schultern. »Das sind die Möbel meiner Eltern.«
»Das meine ich nicht«, widersprach sie. »Klar sind die Möbel ätzend. Aber der Raum, mit den großen Fenstern und dem Parkett, da ließe sich echt was draus machen.«
Viktor schaute sich um und musste zugeben, dass sie recht hatte. »Ich hab mir noch gar keine Gedanken gemacht, wie’s weitergehen soll«, gestand er.
Miriam nahm einen Schluck Tee und nickte.
»Dein Onkel«, meinte er nach einer Weile.
»Ja?«
»Der ist wirklich nett. Also, ich meine, glaubst du, er hätte was dagegen, wenn ich mich mal wieder bei ihm melde? So von Japankenner zu Japankenner?«
»Ich schätze, er würde sich ehrlich freuen.« Miriam stellte ihre Tasse ab und stand auf. »Also dann …« Sie blieb stehen. »Wirst du dich bei mir auch mal melden?«
Viktor schaute zu ihr auf. »Na klar«, sagte er endlich, nach einer deutlichen Pause und mit einem Hauch zu viel Enthusiasmus, selbst für seine eigenen Ohren.
Miriams Lächeln gefror. Abrupt ging sie zur Tür. Viktor bemerkte, dass sie sich spürbar zusammennehmen musste, um nicht zu rennen.
»Ich muss dich doch auf dem Laufenden halten, was den Fall angeht, oder?«, rief er ihr nach. Sie drehte sich um, die Klinke in der Hand. »Oh, klar«, fauchte sie. »Der Fall, ganz klar. Das interessiert mich brennend. Kannst mich ja anrufen, falls die Schneid dir nicht zuhört.«
»Na dann«, murmelte Viktor, als sie schon durch die Tür war. Ihre Schritte klackerten lautstark den Flur entlang. Er konnte nur hoffen, dass seine Tante ihren Kopf nicht zur Tür hinaussteckte. Mannomann. Viktor kratzte sich den Bauch unter seinem T-Shirt. Wie hatte er da nur hineingeraten können? Es musste am Sherry gelegen haben. Noch einmal schüttelte er den Kopf. Langsam trank er den restlichen Tee. Dann ging er in sein Zimmer. Sogar hier hatte er noch Miriams Duft in der Nase, Vanille mit einem Hauch von Weihrauch. Das würde er sich abgewöhnen müssen. Viktor zwängte sich in das Jugendbett, drehte dreimal sein Kopfkissen herum und betete um traumlosen Schlaf.
Drei Stunden später saß er im Bett und atmete hastig. Der Schweiß lief ihm von Hals und Brust, und er versuchte mit aller Macht, das Bild loszuwerden, das ihm noch immer vor Augen stand: Der verstorbene Pfarrer, in vollem Ornat, wie er aus dem Zimmer seiner Schwester kam, vorsichtig die Tür hinter sich schloss, sich zu Viktor umwandte und den Finger auf die Lippen legte. Drinnen hörte er Hannah schluchzen.
Ohne lange zu überlegen, griff er zum Telefonhörer. Es gab keine andere Nummer, die er wählen konnte. »Miriam?«, sagte er hastig und begann zu erzählen, ehe sie etwas erwidern konnte. Es schien Viktor, als müsste er schnell sprechen, damit er alles in Worte fassen konnte, ehe sich seine Erinnerung wieder in Nichts auflöste. »Es war nicht der Pfarrer, hörst du? Ihn habe ich zwar im Traum gesehen. Aber in Wirklichkeit war es mein Vater.«
»Viktor, oh mein Gott, Viktor, bist du das?« Miriam Wechsler versuchte zu sich zu kommen. »Weißt du, wie spät es ist?« Sie tastete nach dem Wecker, stieß ihn versehentlich vom Nachttisch und fluchte.
»Es war mein Vater, Miriam, wenn ich es dir sage. Er kam aus ihrem Zimmer.«
»Moment mal.« Miriam wurde langsam wach. »Du rufst mich mitten in der Nacht an, um mir zu sagen, dass dein Vater aus dem Zimmer deiner toten Schwester kommt?«
»Doch nicht heute.« Viktors Stimme überschlug sich vor Ungeduld. »Damals, kurz bevor sie starb. Ehe sie sich umbrachte. Da hab ich ihn gesehen. Und er schlich sich mitten in der Nacht aus ihrem Zimmer.«
»Aber ich dachte, sie wurde ermordet. Viktor, geht es dir gut?«
»Sie wurde ermordet, ja. Jemand hat sie dazu gebracht, sich zu töten. Jemand hat sie auf dem Gewissen.« Er schrie beinahe.
»Und du glaubst jetzt …« Langsam begann Miriam zu begreifen. Das hier würde kein romantisches Geplauder mehr werden. Sie seufzte. Nun, man musste nehmen, was man kriegen konnte. Energisch setzte sie sich aufrecht hin und stopfte sich eines der zahlreichen indischen Kissen in den Rücken, die sich auf ihrem Bett stapelten. Die
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