Gemordet wird immer
Gartenbauvereins, die zeigten, dass er auch am gesellschaftlichen Leben der Gemeinde teilnahm.«
Viktor pausierte erneut, um das eine oder andere Nicken zu ernten. Er zählte noch ein paar der Verdienste auf, die bei solchen Gelegenheiten genannt werden mussten. Dann holte er tief Luft.
»Aber wissen wir deshalb, wer dieser Mann war, Sigismund Bauer? Der Mann, den wir alle so oft gegrüßt haben? Er hat uns ein Testament hinterlassen, einen langen Abschiedsbrief, wenn Sie so wollen, eine Beichte. Er wollte, dass wir wissen, wer er wirklich war. Aus diesem Grund möchte ich nun seinem letzten Willen folgen und Ihnen diese seine Worte vortragen. Und am Ende werden Sie sehen, dass der Mensch vielleicht das größte Mysterium von allen ist.« Er zog das Manuskript heraus und legte es auf das Lesepult. Einen Moment noch hielt er inne, ehe er es aufschlug.
»Ich bin ein Sünder«, begann er die Lesung.
Noch herrschte im Auditorium keine Unruhe. Selbstanklagen, die gab es sogar von Heiligen. Die meisten erwarteten wohl, von lässlichen Verfehlungen zu hören, von Selbstzweifeln, die den Betreffenden in seiner Bescheidenheit nur noch besser dastehen ließen. Nur in einigen Gesichtern bemerkte Viktor eine plötzliche Gespanntheit, eine Erwartung, die sein Herz schneller schlagen ließ.
Er hatte den Vater von Nadine in einer der hinteren Bänke entdeckt. Und auch Verena war da. Viktor sah zu ihr hinüber, als könnte sein Blick ihr etwas versprechen. Er hoffte, sie würde nicht leiden, sie würde sich nicht entdeckt und bloßgestellt fühlen, nicht aufspringen und gehen. Er tat das alles hier doch nur für sie.
Wort für Wort fuhr er fort, die Selbstbezichtigung des Pfarrers vorzulesen. Er ließ nur die Namen der Opfer aus und auch die Weinerlichkeiten und die Liebesschwüre. Nicht um ihn zu dämonisieren, sondern um ihn vor der Verachtung zu bewahren, die er selbst beim Lesen dieser Stellen ihm gegenüber gehegt hatte.
Die Gemeinde saß mit angehaltenem Atem da. Keiner sagte etwas, keiner regte sich. Alle wirkten wie erstarrt.
»Mir ist bewusst, dass ich verfehlt habe«, beendete Viktor seine lange Lesung. Er schloss das Manuskript. »Pfarrer Bauer wollte am Ende, dass wir sein Gesicht sehen. Das Gesicht eines Menschen, der Unrecht begangen hat und dafür geradestehen möchte. Und so müssen wir ihn annehmen. Jesus, so glaubte er fest, würde ihm aufgrund dieser Beichte vergeben. Wie auch immer. Heute stehen wir vor der Aufgabe des Vergebens. Möge auch uns ein gnädiger Gott helfen. Amen.«
Wolfgang Anders war klug genug, die an dieser Stelle angesetzte Orgeleinlage ausfallen zu lassen und den Sprecher der Fürbitten sofort in die Kanzel zu winken. Die Gemeinde kam gar nicht erst dazu, über das nachzudenken, was sie da eben gehört hatte.
Viktor ging die Stufen hinunter zu seinem Platz, das Buch des Priesters fest an sich gedrückt. Der neue Pfarrer kam auf ihn zu und zischte: »Dieses Werk hätte in die Hände der Kirche gehört.« Er versuchte, es an sich zu ziehen.
Viktor hielt es fest. »Damit Sie es in irgendeinen Giftschrank sperren? Dieses Buch wollte gehört werden. Ich habe nur einen letzten Willen erfüllt.« Es gab einen kurzen Ringkampf, den der Pfarrer vorzeitig beendete, als er die Blicke einiger seiner Schäfchen bemerkte. Keuchend rückte er seine Soutane zurecht und dampfte davon.
Viktor ging zum Ausgang. Genug Weihrauch für heute, er brauchte frische Luft. Auch der Schwindel hatte wieder eingesetzt, wie der Arzt es ihm prophezeit hatte.
Gerade als er einmal kräftig die frische Märzluft eingeatmet hatte, tippte ihm jemand auf die Schulter. Viktor fuhr herum.
»Entschuldige«, sagte Verena, »ich wollte dich nicht erschrecken.« Sie nahm eine Zigarette aus einer Packung in ihrer Umhängetasche, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug.
Viktor starrte sie eine ganze Weile an, fasziniert von dem Schleier aus Zigarettenrauch, der vor ihrem Gesicht hing. Die kleine weiße Säule kringelte sich graziös und drehte sich über ihrer Stirn schließlich in immer größeren Spiralen auseinander, bis sie sich in der grauen Luft dieses kalten Märztages auflöste.
»Welche Augenfarbe hatte Hannah eigentlich?«, fragte er.
»Ist das ein Quiz oder ein Test?«, entgegnete Verena. Sie drückte die Zigarette an einem Grabstein aus.
»Nein, nein, ich meine: Waren sie blau oder braun?«, insistierte Viktor. »Es ist wirklich wichtig.«
Sie neigte den Kopf und schien lange zu überlegen, was sie von der
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