Gemordet wird immer
Frage halten sollte, dann stieß sie plötzlich ein kleines Lachen aus. »Ist das dein Ernst?«, fragte sie. »Hannahs Augen waren so grün, grüner ging’s nicht mehr. Ich weiß noch, dass wir beim Liebesorakel immer gewitzelt haben: ›Grüne Augen Froschnatur, von der Liebe keine Spur‹. Das hat sie ganz schön geärgert.«
»Hmm«, grollte Viktor. Aber er beschloss, es hinzunehmen. Dennoch war ihm, als hätte man ihm etwas geraubt.
»Ich würde mich dafür interessieren, mal einen Blick in das zu werfen, was du da in der Hand hältst«, sagte Verena.
Viktor hielt es ihr hin. »Das ist dein gutes Recht, schätze ich.«
Sie hob die Brauen. »So? War er so diskret, Namen zu nennen.«
»Du bist nicht die Einzige gewesen, falls dich das tröstet.«
»Na, du bist mir ein Herzchen.« Sie nahm das Album und blätterte hastig darin. Hier und da blieb ihr Blick an einem Satz hängen, und sie verzog das Gesicht. »Ich kotz’ gleich«, stellte sie fest und klappte es zu, steckte es dann aber in ihre Umhängetasche.
»Ich hab nicht gesagt, dass damit alles gut sein würde«, entschuldigte Viktor sich.
Sie schaute über seine Schulter hinweg in die Ferne. Er folgte ihrem Blick. Das Schwindelgefühl hatte sich gelegt, doch dafür konnte er plötzlich seine eigenen Beine nicht mehr spüren und musste der Versuchung widerstehen, mit der Faust gegen seine Oberschenkel zu hämmern, um irgendetwas zu fühlen. Ob es Tobias ähnlich ging, wenn er sich auf den Kopf schlug?
»Manche Dinge werden niemals gut«, sagte Verena. Sie nahm sich eine neue Zigarette und bot Viktor auch eine an. Als er zögerte, lachte sie rau. »Du musste keine nehmen, nur aus Mitgefühl.«
»Ich weiß es«, sagte er. »Dass manche Sachen nicht heilen«, fügte er hinzu.
»Ach so, ja, hab ich vergessen«, sagte sie und paffte. »Entschuldige.«
»Hat Hannah mit dir jemals …«
»Nein«, fiel sie ihm ins Wort.
»Bauer hat sie nicht …«
»Nein.« Das kam ebenso entschieden.
»Woher weißt du das?«, fragte Viktor.
»Weil ich sie mal zu ihm mitgenommen habe. Ich hatte wohl gehofft, irgendwie, es würde besser, wenn ich nicht, nun ja …« Sie hielt inne und zeigte ein kurzes schiefes Lächeln. »Wenn ich nicht die Einzige gewesen wäre, verstehst du?« Sie drehte den Kopf weg. »Aber er hat sich kein Stück für sie interessiert.«
»Verstehe.«
»Kannst also beruhigt sein, deswegen hat sie sich nicht umgebracht. Dann eher schon wegen Max.«
»Max?« Viktor hörte auf, an seinen Beinen zu reiben. »Wer war Max?«
»Na, ihr Freund halt. Das Arschloch.« Alles in Viktor sträubte sich gegen das, was er da gerade hörte. Seine Schwester hatte doch keinen Freund gehabt. Das hätte er gewusst. Sie hatte ihm schließlich auch sonst immer alles erzählt. Ihm und dem Tagebuch. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Wo war das verdammte Tagebuch?
Wolfgang Anders trat vor die Tür der Aussegnungskapelle und winkte. »Viktor«, rief er, so laut, wie der Anlass es erlaubte. »Kommst du jetzt bitte?«
34
Mit zusammengebissenen Zähnen schleppte Viktor gemeinsam mit den Friedhofsarbeitern den Sarg zu dem geöffneten Grab und ließ ihn hinab. Ungeduldig wartete er die letzten Worte von Bauers Kollegen ab, das Versprengen von Wasser, das Streuen von Erde. »Und Staub zu Staub.« Er hustete und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während die grellen Farben der Gerbera in den Kränzen ihm entgegensprangen, als wollten sie ihn verhöhnen. Wir welken, hörte er sie schreien. Wir blühen und sind schon tot. Wie du, wie du, wie du. Die Bänder flatterten im Wind, im Frühlingswind, blau und weiß und gold, voll Stiller Trauer, Letztem Gedenken, Mit stillem Gruß. Endlich fiel die erste Schaufel Erde dumpf auf den Sarg. In die Menschenmenge kam Bewegung. Man spürte das Unbehagen und das Zögern: Sollte man noch vortreten und Beileid wünschen? Wem eigentlich? Und wozu? Oder war es besser, den Ort dieser Misere schnell und unauffällig zu verlassen? Die meisten entschieden sich für Letzteres. Ineinandergehakt, in besten Kleidern und unbequemen Schuhen, strebten sie den Ausgängen entgegen und fühlten sich ein wenig wie die Überlebenden einer Katastrophe. Auch Verena war verschwunden. Also war das hier wohl erledigt.
Am Ende blieb nur sein Onkel, der drohend auf ihn zutrat. »Wie konntest du nur?«, begann er.
Viktor straffte sich. »Einer«, sagte er, »musste es ja machen.«
»Und wo willst du hin?«, rief Wolfgang Anders ihm nach, als Viktor sich
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