Gemordet wird immer
entschuldige.« Tante Hedwig beeilte sich, ihn zu befreien. »Im ersten Moment dachten wir, du hättest dieselben Anfälle wie Tobias.«
»Im Fesseln habt ihr echt Routine«, stellte Viktor fest und rieb sich die Gelenke, die völlig blutleer waren. »Mein Mund ist total trocken.«
»Das ist ein typisches Symptom«, belehrte ihn der Arzt. »Beschränken Sie sich auf Wasser und überlegen Sie sich das mit der Beerdigung noch mal.«
»Ich will nicht, dass du in der Kapelle stehst und den Leuten was von Titania erzählst.« Sein Onkel klang sehr bestimmt.
»Das war doch gar nicht Titania, das war Nadine«, widersprach Viktor.
»Siehst du.« Wolfgang Anders nickte seiner Frau vielsagend zu.
Tobias kam ins Zimmer. Als er den unerwarteten Fremden sah, trat er dicht an die Wand und biss sich in den Handrücken. Der Arzt begrüßte Tobias freundlich, doch der zeigte keine Anzeichen dafür, dass er ihn erkannt hatte. »Bayern 3«, forderte er nur.
Tante Hedwig zögerte, aber ihr Mann wies mit dem Kinn auf das Radio. »Mach schon, sonst schreit er uns wieder die Ohren voll.« Sie gehorchte. Das Programm setzte ein mit »Hope it gives you Hell.«
Viktors Kopf reagierte umgehend mit einer Schmerzwelle, aber er verkniff sich eine Grimasse.
»Das Radio ist so ein Segen für Autisten«, trällerte Tante Hedwig, die erleichtert zuschaute, wie ihr Sohn sich entspannte und an den Frühstückstisch setzte. »Immer dieselben zwanzig Lieder. Er findet stets etwas Vertrautes vor.« Der Sender wechselte zu Lady Gagas »Bad Romance.« »Darf ich unserem Viktor einen Kaffee machen?«, fragte sie den Arzt.
»Unbedingt«, kam Viktor ihm zuvor. Er hörte auf, sich zu strecken, und grinste. »So ein paar Tabletten bringen mich nicht um. Hab ich euch schon erzählt, wie ich mal in New Orleans auf einem Friedhof mit einem Freund eine Tüte reingezogen hab und auf einen total miesen Trip geraten bin? Wir haben damals in einem Laden für Hexenbedarf gearbeitet, Tommie und ich. Wir hocken da also auf dem Grab von dieser angeblichen Voodookönigin und warteten auf Mitternacht. Und dann hatte Tommie noch diese Pillen dabei, von denen er meinte, die wären voll krass, und na ja …« Als er die Blicke der anderen bemerkte, hielt er inne. Der Arzt schloss seine Tasche. »Geben Sie ihm seinen Kaffee«, meinte er und verabschiedete sich. Hedwig stellte sich an die gurgelnde Kaffeemaschine.
Wolfgang Anders setzte sich seinem Neffen gegenüber. »Ich meine es ernst«, sagte er. »Ich will keine Überraschungen erleben nachher.«
Viktor nahm die dampfende Tasse aus den Händen seiner Tante entgegen, nahm einen großen Schluck, verbrannte sich die Zunge, doch war dankbar, dass er überhaupt etwas spürte. Versonnen blickte er durch den Dampf. »Kann ich nicht versprechen«, meinte er.
33
»Wir alle halten den Tod für ein Mysterium.« Viktor hielt kurz inne, während sein Blick über die Reihen der Zuhörer vor ihm glitt. Lauter ernste, gesammelte Mienen blickten zu ihm auf. Seine Stimme hallte voll und fremd in dem Gewölbe wider. »Wir zerbrechen uns den Kopf, was uns auf der anderen Seite erwartet: Seelenwanderung oder Paradies, Nirwana oder atomarer Feinstaub. Und dabei übersieht man so leicht, dass das Leben ein viel größeres Mysterium ist. Wir tun vertraute Dinge, treffen vertraute Menschen, erledigen die Einkäufe und die Steuererklärung. Aber haben wir eigentlich eine Ahnung, was sich um uns herum abspielt? Wie es in den anderen aussieht? Jenseits der Fernsehnachrichten? Hinter der Nachbartür? Die einen fragen sich, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, die anderen, ob sie heute Nudeltopf oder Kaiserschmarrn machen sollen.« Viktor ignorierte die aufkommende Unruhe in den ersten Reihen. »Aber keiner von uns stellt sich die richtigen Fragen. Die, auf die es ankäme. Keiner weiß, wie sehr einer seiner Mitmenschen vielleicht leidet und was er dagegen tun könnte. Keiner kennt den anderen wirklich.« Er legte eine Pause ein. Dann fuhr er fort. »Sie werden gleich die Stimme von Pfarrer Bauer hören. Für die meisten von uns war er der Mann, der seit über zwanzig Jahren das Leben dieser Gemeinde geprägt und bereichert hat, der engagiert war in der Seelsorge und der Jugendarbeit. Viele erinnern sich sicher noch an sein Engagement für den Kinderchor. Oder dass er darauf bestand, den Kommunions- und Firmunterricht immer persönlich zu halten. An seine Ansprachen bei der Einweihung des neuen Fußballplatzes oder des Vereinshauses des
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