Gemordet wird immer
suchte Viktor Halt an der Bettkante. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund, und seine Lider wurden immer schwerer. Er holte tief Luft, schaffte es dann, sich herumzuwuchten und die Schublade aufzuziehen. Eine ganze Weile starrte er hinein, sein von Schwindel und Kopfschmerzen verzerrter Blick zeigte ihm nur einen leeren Kasten. Er zwinkerte mehrmals in der Hoffnung, so wieder eine klare Sicht zu bekommen. Schließlich presste er die Fäuste gegen die Augen, dass es schmerzte. Der Schwindel ließ nach, doch als er sie wieder öffnete, tanzten Schlieren vor seinen Augen. Fast blind tasteten seine Finger in der Schublade herum. Aber was sein Blick nicht festhalten konnte, das fanden auch seine suchenden Hände nicht: Die Schublade war leer.
»Na wartet, diesmal …« Er schaffte es, in einem Schwung die Beine aus dem Bett zu bekommen. Mühsam stand er auf. Wie ein Betrunkener tastete er sich die Wand entlang zum Ausgang. Im Flur blendete ihn das grelle Licht der Lampe. Er schloss die Augen zu schmalen Schlitzen und schob sich langsam weiter. In seinem Kopf sirrte irgendwo eine kaputte Glühbirne. Er schlug ein paarmal gegen seine Schläfen, aber das Geräusch wollte nicht aufhören.
Als er in die Küche stolperte, fuhren seine Tante und sein Onkel herum.
»Wo ist das Tagebuch?«, fragte Viktor. Es schien ihm wie ein Wunder, dass seine Stimme ihm gehorchte. Seine Beine taten es nicht mehr, sie zitterten so sehr, dass er sich auf einen Stuhl sinken lassen musste. Das war nicht gut, gar nicht gut. Er wollte stehen, wollte ihnen klarmachen, wie ernst es ihm war. Er musste …
»Hannahs …«, brachte er heraus. Das war laut gewesen, gar nicht schwer. Er musste nur Luft holen, dann würde alles ganz von selbst aus ihm herausströmen. Viktor holte tief Luft. Er bebte. »Tagebuch.«
»Er ist übermüdet«, stellte sein Onkel fest.
»Das Tagebuch.« Seine Tante sank auf einen Stuhl ihm gegenüber. Sie schaute ihren Mann an. »Dass das noch existiert.«
»Titania«, wimmerte Viktor. »Alle vernichtet.«
»Mein Gott, er halluziniert!«
»Noch einer.« Wolfgang Anders stellte seine Kaffeetasse in den Ausguss und krempelte die Ärmel hoch.
»Du meinst, er ist auch …?«
»Nein, er hat einen Nervenzusammenbruch.«
»Dass er das Buch gefunden hat.« Hedwig Anders neigte sich über ihren wehrlosen Neffen und betrachtete ihn. Dann schüttelte sie den Kopf. »Zu schade.«
Viktor wollte etwas sagen, über ihre Baiserlocken und die zuckrigen Blumen, die auf ihrem Kleid tanzten.
Onkel Wolfgang trat hinter ihn. »Gib mir das Handtuch«, sagte er zu seiner Frau.
Sie gehorchte ihm wortlos. Routiniert schlang sie den Knoten.
»Nicht einsperren!«, schrie Viktor, als er den Griff spürte. Aber seine Arme flatterten blau im Wind. Dann kamen die Wolken, flockig leicht wie Zuckerwatte, und alles verdunkelte sich.
32
»Onkel, dass dieser Gummibaum um Hilfe ruft, hört man auch ohne besondere Fähigkeiten.« Miriam nahm sich aus der Küche ein feuchtes Tuch und machte sich daran, die dicke Staubschicht von den grünen Blättern zu wischen. Sie tat es konzentriert und sorgsam, ohne ein einziges Mal aufzublicken. »Manchmal ist es keine Esoterik, sondern schlichte Biochemie.«
Ihr Onkel schaute ihr von seinem Sessel aus zu und schwenkte sachte sein Cognacglas. »Du kannst nicht jede seltsame Pflanze retten«, sagte er.
Miriam wischte ein wenig heftiger. »Diese Kommissarin Schneid«, fragte sie schließlich. »Ist die blond und schlank und langbeinig?«
Ihr Onkel lächelte hinter ihrem Rücken. »Ich schätze, das beschreibt sie ganz gut«, gab er zu. Nach einer Weile fuhr er fort: »Kennst du die Wasseraloe? Eine schöne Pflanze, die keine Wurzeln hat. Sie treibt einfach so im Wasser herum, mal hier, mal da.«
Miriam wischte. »Wir hatten eine in unserem Gartenteich. Die Schildkröten haben sie gefressen.«
»Vielleicht muss man sie den Schildkröten überlassen.« Professor Hoffmann nahm einen kleinen, genießerischen Schluck.
»Lassen wir doch das Grünzeug aus unserer Konversation«, meinte Miriam unwillig und drehte sich um. Sie knallte den Lappen auf die Fensterbank und kam zum Sofa. »Oder willst du ein Haiku daraus machen?«
Er hob um Frieden bittend die Hände. »Du hast nach dem Selbstmord von Hannah Anders gefragt, ich habe dir den Gefallen getan und meine Quellen aktiviert.« Der Gerichtsmediziner drehte den Laptop zu seiner Nichte hin. »Die Akten zu dem Fall.«
Während sie die geöffneten Dokumente
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