Gemordet wird immer
fest. »Gestern hat sie noch gesagt, sie kommt vielleicht mit. Weil doch der Laden heute eh zu ist.«
Dann probierte sie Viktors Nummer. Halb erwartete sie, ebenfalls nur das Freizeichen zu hören, stattdessen erklang unerwartet schnell die hastig klingende Stimme ihres Neffen. »Könntest du bitte …« begann sie, ehe sie unterbrochen wurde. »Oh«, bemerkte sie dann. »Aufgelegt.«
»Einfach so?«, fragte ihr Mann. »Das ist doch wieder typisch für ihn. Was hat er gesagt?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, er meinte, ich solle die Polizei rufen.«
»Die Polizei?« Wolfgang Anders hörte auf, das üppige silberne Haar der Seniorin zu bürsten. »Warum zum Teufel solltest du das tun?«
Hedwig Anders wühlte in dem Beutel mit den Sachen, die sie für die Tote erhalten hatten. »Da ist noch ein Nagellack«, stellte sie fest.
»Ach ja, hatte ich vergessen. Der soll drauf, weil sie den angeblich bei festlichen Gelegenheiten immer trug.«
Mit gerunzelter Stirn betrachtete Hedwig Anders das grelle Orange in dem kleinen Fläschchen. »Aber das beißt sich doch mit dem Lavendelton.«
»Ihr Mann hat mir das so gegeben.« Wolfgang Anders hatte nicht vor, sich auf Diskussionen einzulassen.
»Und der Lippenstift ist rot. Männer«, seufzte Hedwig. »Ich rufe nachher die Tochter an.«
Sie beendete ihre Arbeit und stieg die steilen Treppen hinauf. Einmal mehr stellte sie fest, dass sie dabei außer Atem geriet. Oben angekommen verschnaufte sie einen Moment und überlegte. Dann griff sie zum Telefon in der Küche und wählte noch einmal Miriams Nummer. Wieder meldete sich nach kurzer Zeit nur die Mailbox mit ihrer gepflegt-neutralen Stimme. Dann probierte sie es bei Viktor. Aber auch bei ihm sprang nur der Anrufbeantworter an. Hedwig Anders zögerte einen Moment. Schließlich wählte sie neu.
»Frau Burger, Anders hier vom Beerdigungsinstitut. Verzeihen Sie, dass ich Sie in dieser schweren Zeit schon wieder störe. Es geht nur um ein Detail, aber eines, das Ihrer Mutter sicher am Herzen gelegen hätte. Sie war so eine elegante Frau. Wie? Ja, genau …«
Es entspann sich eine angeregte Unterhaltung, die erst wieder unterbrochen wurde, als die Katze am Fenster vorbeiflog und Hedwig Anders dazu veranlasste, auf die Uhr zu sehen.
Karoline Schneid klopfte mit ihren klarlackierten Nägeln auf die Schreibtischplatte. Der Pathologe, Prof. Dr. Hoffmann, war ihrer Einladung gefolgt und hatte seinen Besuch angekündigt, was an sich kein Grund zur Freude war. Sie konnte den alten Mann nicht leiden, sie empfand seine Art, den Grandseigneur zu geben, als unerträglich selbstverliebt. Wenn einer schon einen Hut trug … Sie hatte zu viel erlebt, um sich von solchen Inszenierungen beeindrucken zu lassen. Ihr eigener Vater hatte sich auch gerne gestylt wie der letzte Gentleman und sich aber dann, bei dem ersten schwerwiegenderen Problem, einfach in Luft aufgelöst und nur einen Duftschwall seines schweren Rasierwassers hinterlassen, dieser … Sie verscheuchte den Gedanken.
Ihre Abneigung gegen Hoffmann wurde zwar notdürftig durch die erfreuliche Aussicht im Zaum gehalten, dass er in einem Jahr in Pension gehen würde. Diesmal aber nagte etwas an ihr, das über ihre übliche Abneigung hinausging. Hoffmann hatte in ihren Akten herumgeschnüffelt, an sich nichts Verbotenes, aber auch nichts Alltägliches. Normalerweise betätigte die Pathologie sich nicht investigativ, und der Informationsfluss erfolgte von ihm zu ihr, nicht umgekehrt. Nun, das passte immerhin in das Bild, das sie von ihm hatte. Vermutlich gab es nichts, von dem er nicht dachte, dass er es besser könnte als sie oder jeder beliebige andere Sterbliche. Sie vermutete, wenn ein Mann mit seinem Ego erst einmal so alt war, dann traute er sich einfach alles zu.
Karoline Schneid kramte in ihrer Handtasche nach dem Tablettendöschen. Sie wählte, schluckte, spülte hinunter und zog ihr Jackett zurecht. Was sie wirklich beunruhigte, war, dass er nicht nur im aktuellen Fall Bulhaupt, sondern parallel auch in einem anderen, einem älteren Fall recherchiert hatte, der streng genommen nicht einmal einer war, denn es handelte sich um einen Selbstmord. Doch was sie daran so ungemein alarmierte, war der Name des Mädchens: Hannah Anders. Konnte dieser Viktor es tatsächlich geschafft haben, ein Rattenloch in ihre Informationsburg zu graben? Dieser Viktor … Er versteckt sich, dachte sie. Er versteckt sich hinter seiner naiven, jungenhaften Art und diesen absurden Anekdoten.
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