Gene sind kein Schicksal
2 -Diabetes mellitus durch immer weiter reichende pharmakologische (und zugleich lukrative) Therapien behandeln zu können, bezeichnen kritische Ärzte dies als einen Irrweg. Im Fachblatt
Diabetes Metabolism Research and Reviews
haben es die Experten Steve Stannard und Nathan Johnson auf den Punkt gebracht: »Die Anstrengungen, einen pharmakologischen oder molekularen Sieg über die Diabetes-Epidemie zu erringen, beruhen auf einem Denkfehler.« [149] Auch Mitarbeiter der Harvard School of Public Health fühlen sich inzwischen bemüßigt, die falsche öffentliche Wahrnehmung der Erkrankung zu korrigieren. »Während die Forschung in einem beachtlichen Ausmaß mögliche genetische Ursachen von Typ- 2 untersucht«, so sei doch »bereits viel darüber bekannt, wie man die meisten Fälle vermeidet«. [150] Diese Aussage bezieht sich auf eine besonders umfassende Studie zur Frage, warum der eine eigentlich an Diabetes erkrankt, der andere aber verschont bleibt. [151]
Zehn Jahre lang haben die Gesundheitsforscher der Harvard Medical School nachverfolgt, wie es mehr als 4800 Frauen und Männern im Alter von 65 Jahren und älter gesundheitlich erging. Jedes Jahr wurden die Probandinnen und Probanden ärztlich untersucht. Die Forscher haben sie gewogen und mit dem Maßband ihren Bauchumfang gemessen, und Frauen und Männer gaben Auskunft, wie viele Zigaretten und wieviel Alkohol sie konsumierten, welche Nahrung sie zu sich nahmen und wie häufig sie sich körperlich bewegten.
Im Laufe der zehn Jahre erkrankten mehr als 300 der Studienteilnehmer an Typ- 2 -Diabetes mellitus, und dank der kontinuierlich erhobenen Daten konnten die Forscher herausfinden, warum es gerade diese Menschen getroffen hatte. Fünf Faktoren haben sich herausgeschält: mangelnde körperliche Bewegung, Zigaretten rauchen, unausgewogene Ernährung, übermäßiger Fettanteil am Körper und allzu starker Alkoholkonsum waren jeweils mit einem erhöhten Risiko verbunden. Allerdings muss niemand zum Salat- und Körnerfresser werden und auf Alkohol verzichten, um dem Typ- 2 -Diabetes mellitus zu entgehen. Denn kleine Veränderungen des Lebensstils führen der Studie zufolge bereits zu großen Zugewinnen an Gesundheit. Moderater Alkoholkonsum (nicht mehr als zwei Getränke am Tag) ist durchaus mit einer gesunden Lebensführung zu vereinen. Und auch Übergewicht fällt der Studie zufolge gar nicht so sehr ins Gewicht. Denn ganz gleich, ob dick oder dünn: Solange Menschen sich vernünftig ernähren und sich regelmäßig körperlich bewegen, können sie sich merklich gegen Diabetes schützen.
Glotze ist schlimmer als Gene
Als junger Arzt hat Stephan Martin einst in einem Forschungslabor der Harvard Medical School gearbeitet – und dabei gelernt, sich nicht von Verheißungen der Biomedizin blenden zu lassen. »Die genetischen Faktoren von Typ- 2 -Diabetes sind hochgespielt worden. Es ist fast ein Skandal, dass wir Millionen für die molekulare Grundlagenforschung ausgeben«, sagt der Professor, der das Westdeutsche Diabetes- und Gesundheitszentrum im Sana Krankenhaus in Düsseldorf-Gerresheim leitet. »Je länger ich als Arzt tätig bin, desto klarer wird mir: Wir müssen endlich umsetzen, was wir eigentlich schon wissen.«
In seiner Sprechstunde erfährt man, was er damit meint: Seine Patienten versucht Martin möglichst ohne Medikamente zu kurieren. Zu diesem Ansatz gehören ausführliche Gespräche und Informationen zu den wahren Ursachen der Erkrankung. »Nicht Gene sind schuld, sondern die Glotze«, sagt Martin und verweist auf einen frappierenden Zusammenhang: Je mehr Stunden ein Mensch vor dem Fernsehgerät sitzt, desto größer ist dessen Diabetes-Risiko. In einer Studie [152] mit mehr als 50 000 Frauen, die sechs Jahre lang beobachtet wurden, kam zum Beispiel heraus: Für jede zwei Stunden, die man am Tag vor dem Fernseher verbringt, steigt das Diabetes-Risiko um 14 Prozent. Zum körperlichen Nichtstun vor der Mattscheibe gesellt sich der Verzehr von Süßigkeiten, Kartoffelchips und anderen Snacks. Vor einem krank machenden »Fernsehsyndrom« warnt Stephan Martin: Hier sollte »die öffentliche Verantwortung angemahnt werden, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen, was in der aktuellen sehr fernsehfixierten Medienlandschaft sicher schwer zu realisieren ist«. [153]
Doch in seiner Sprechstunde kann Stephan Martin erstaunliche Erfolge verbuchen. Zu seinen Patienten gehört beispielsweise Manfred Neumann, ein 55 Jahre alter Schuldirektor in
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