Gene sind kein Schicksal
amerikanische Bier, mit dem er seinen Durst löschen wollte, derart ungenießbar, dass er auf koffeinhaltige Limonade umstieg, und zwar literweise. »Mit der Firma Coca-Cola war ich fortan verheiratet«, erzählt er. Der stete Konsum des zuckerhaltigen Getränks führte im Laufe der Jahre zu einem deutlich erhöhten Blutzuckerspiegel – aber Ebert spürte davon gar nichts und hatte schon gedacht, er könne den Spätfolgen entrinnen. Umso härter aber schlug die Erkrankung vor zwölf Monaten zu; Ebert erleidet einen Schlaganfall, und bei der Notversorgung im Krankenhaus stellt sich heraus: Das linke Bein wird kaum mehr mit Blut versorgt, weil die Arterien verkalkt und krankhaft verengt sind. Der Mann hat hochgradig Zucker.
Ärzte legen Herrn Ebert chirurgische Bypässe, aber die Operationswunden verheilen äußerst schlecht – auch dies ist eine Folge seiner diabetischen Erkrankung. Das linke Bein entzündet sich und muss unterhalb des Knies amputiert werden. Damit nicht genug: Auch auf der rechten Seite kommt es zu Komplikationen: Die Haut an seinem Fuß ist wie Pergament, und es bildet sich eine Wunde, die sich nicht mehr verschließen will. Leider war auch hier eine Amputation unumgänglich: Dort wo eigentlich die große Zehe sein sollte, klafft jetzt ein kreisrundes Loch. Dank der aufwendigen Pflege ist es dem Arzt Stephan Martin, der hier im Sana Krankenhaus das Westdeutsche Diabetes- und Gesundheitszentrum leitet, in den zurückliegenden Wochen gelungen, die Wunde zu verkleinern. Vielleicht gelingt es ja, das rechte Bein zu retten – in seiner heutigen Lage wäre das für Herrn Ebert schon ein Erfolg.
20 000 Euro und mehr kann die medizinische Versorgung eines Typ- 2 -Diabetikers pro Jahr kosten, was sich angesichts der immer zahlreicher werdenden Fälle auf Ausgaben in Millionenhöhe addiert und die Beiträge der Krankenversicherung in die Höhe treibt. Rund um den Typ- 2 -Diabetes mellitus ist in Deutschland und in anderen Industriestaaten ein einträglicher Industriezweig entstanden. Mit Pillen und Insulinspritzen wird an den Symptomen des Leidens herumgedoktert. Und dereinst möchten Ärzte einschneidend gegen die Volksseuche vorgehen: In klinischen Studien verkleinern Chirurgen betroffenen Menschen operativ den Magen, damit in denselbigen nicht mehr so viel Nahrung hineinpasst. Durch diesen Einschnitt soll der krankhaft erhöhte Zuckerspiegel im Blut wieder nach unten gehen. [142]
Genetische Diskriminierung
Dieser Griff zum Skalpell ist nur der jüngste Beleg dafür, wie sehr unsere Gesellschaft den Typ- 2 -Diabetes mellitus inzwischen als biologisch programmierte Krankheit sieht, die es mit rein pharmakologischen oder chirurgischen Maßnahmen zu reparieren gilt. Dabei haben kritische Forscher in jüngster Zeit eine gegenläufige Erkenntnis gewonnen: Die vielbeschworene genetische Anfälligkeit für Typ- 2 -Diabetes mellitus gibt es so gar nicht. Seit Jahrzehnten suchen westliche Forscher im Blut von Indianern, Insulanern und Mitgliedern anderer indigener Gruppen nach den sagenumwobenen Giergenen – und finden nichts. Die Hypothese muss als biologistisch-koloniales Gedankengut gelten, weil sie der wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. Der australische Gesundheitsforscher Yin Paradies und zwei Medizinethnologen aus den USA konstatieren in einem Aufsatz, es gebe »keine konsistenten Beweise dafür, dass Minderheiten genetisch gesehen besonders anfällig sind«. [143]
Nicht nur, dass Genetiker die vermeintlichen »thrifty genes« trotz aufwendiger Erbgutanalysen unter Mitgliedern von Naturvölkern schlechtweg nicht finden konnten. Auch eine andere Grundannahme hat sich als falsch erwiesen. So hieß es immer, im Vergleich zu Indianern und Insulanern seien Europäer sowie Australier und US -Amerikaner europäischer Abkunft gegen Typ- 2 -Diabetes mellitus genetisch geschützt. Doch die dramatisch steigenden Zahlen in den westlichen Gesellschaften zeigen, wie irrig diese Annahme ist. Vor dem Zweiten Weltkrieg war ein Mensch mit Typ- 2 -Diabetes mellitus in Deutschland eine medizinische Kuriosität; nur 0 , 4 Prozent der Einwohner hatten »Alterszucker«, wie es damals noch hieß. Heute haben vermutlich 12 Prozent der Einwohner Deutschlands das Leiden: etwa zehn Millionen Menschen. Die Gene können diese rapide Zunahme nicht erklären. Das Gleichnis mit der fetten Sandratte trifft zu, allerdings nicht nur auf irgendwelche Eingeborenen, sondern auf alle Menschen.
Zum Laufen geboren
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