Gene sind kein Schicksal
wenige Wissenschaftler auf der Welt beschäftigen sich so gründlich mit dem Körper des Menschen wie Daniel Lieberman, Professor an der Harvard University. Überall in seinem Labor liegen Knochen und Schädel herum, in der Ecke steht das Skelett eines Frühmenschen. An diesem Tag bauen Lieberman und seine Studenten ein Laufband auf: Darauf sollen später gesunde Probanden rennen, und Lieberman will ihren Bewegungsablauf mit einer Filmkamera dokumentieren. In anderen Studien vergleicht Lieberman den Knochenbau von Menschen mit jenem von Schimpansen und Neandertalern, immer mit dem Ziel, herauszufinden, welche evolutionären Mechanismen es eigentlich waren, die den Körper des Menschen so geformt haben, wie er geworden ist.
In der modernen Zeit klagen wir über Plattfüße und Rückenschmerzen, aber in seinen Studien hat Lieberman nachgewiesen, dass der Mensch eigentlich ein geborener Läufer ist. Das sehe man dem Körper noch heute an: Wegen der nackten Haut und der Schweißdrüsen überhitzen wir beim Dauerlauf nicht; ein besonderes Nackenband, das Ligamentum nuchae, erlaubt es uns, den Kopf beim Laufen nach vorne zu halten; anders als die anderen Affen haben wir einen gewaltigen Gesäßmuskel, den Musculus glutaeus, der unabdingbar ist für die Biomechanik des Laufens. [144] Ihr läuferisches Können hat unsere Vorfahren in prähistorischen Zeiten zu einer besonderen Form der Jagd befähigt. Stundenlang hetzten Fred Feuerstein und seine Freunde Antilopen und andere Tiere durch die Savanne, ehe diese überhitzt zusammenbrachen und eine leichte Beute waren.
Zuckerkrank waren diese ausdauernden Jäger bestimmt nicht, sagt Lieberman, als er seine umfangreiche Schädelsammlung zeigt und durch sein Labor führt. Es sei nicht redlich, wenn Biomediziner die evolutionäre Geschichte des Menschen einfach ausblendeten, sagt Lieberman. Er wiegt einen Schädel in der Hand und fügt hinzu:
»Ständig lese ich diese Geschichten über die genetische Grundlage aller möglichen Krankheiten. Es würden immer mehr Gene entdeckt, die einen für Typ- 2 -Diabetes mellitus prädisponieren, und in den Zeitungen, aber auch in den Wissenschaftsmagazinen steht dann: Diabetes ist genetisch. Aber das ist natürlich Blödsinn. Die betreffenden Gene mögen zwar einen Effekt haben, aber sie haben ihn eben nur unter ganz bestimmten Umweltbedingungen. Diese Gene sind in der Evolution nicht aussortiert worden, weil wir ja erst seit kurzer Zeit in dieser Gesellschaft leben, in der wir uneingeschränkten Zugriff auf Kalorien haben und uns nicht mehr körperlich bewegen müssen. Da läuft eine Desinformation in der Presse ab – dabei ich bin mir sicher, dass die beteiligten Genetiker natürlich ganz genau wissen, dass vor hundert Jahren so gut wie niemand Typ- 2 -Diabetes mellitus hatte.« [145]
Warum wir zuckerkrank werden
Die sich ausbreitende Epidemie der Zuckerkrankheit zeigt vor allem eines: Der moderne Mensch hat sich selbst eine Welt geschaffen, in die er evolutionsmedizinisch gesehen nicht sonderlich passt. So können nur aktive Muskeln dem Blut Traubenzucker (Glukose) entziehen – in der Steinzeit mit ihrer notorisch unzuverlässigen Nahrungsmittelversorgung war das von Vorteil, wenn es mal wieder nichts zu essen gab. Sobald ein Mensch ruhte, verbrauchten die Muskeln keinen Zucker mehr, die Ressourcen wurden gespart. Wenn man aber Schokolade und Gummibärchen futternd vor dem Fernseher sitzt, dann bedeutet dies: Die passiven Muskeln können keinen Zucker aus dem Blut fischen; der Glukosespiegel ist dauerhaft erhöht und ruiniert mit der Zeit die Gesundheit.
Dieses Steinzeitprogramm gilt für alle Menschen. Die unterschiedlichen Diabetesraten in Deutschland und Nauru gehen also mitnichten auf genetische Unterschiede zurück, sondern sie sind den Einflüssen durch die Umwelt geschuldet. Wenn Ureinwohner häufiger erkranken, dann zeigt das nur, dass die Lebensumstände in ihren Reservaten besonders ungesund sind. »Es sind die Aspekte der sozialen Umwelt, die für die hohen Diabetesraten unter indigenen Menschen verantwortlich sind«, sagt der Gesundheitsforscher Yin Paradies aus Australien. »Schlechte Nahrung, verminderte körperliche Aktivität, Stress, niedriges Geburtsgewicht und andere Faktoren der Armut tragen zu der hohen Diabetesrate von indigenen Menschen bei.«
Der westliche Forschereifer, das Diabetes-Risiko in den Genen suchen zu müssen, ist nicht nur fruchtlos, sondern lenkt auch von den wahren Ursachen ab. Die Fixierung
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