Generation A
Bevölkerungsstatistik.
Jacques schlief meistens tagsüber, weil er den Lärm nicht aushielt, den das tägliche Leben seiner Nachbarn mit sich brachte: das Postauto, Laubbläser, spielende Kinder. Konnten sie das nicht irgendwo anders tun? Warum, um Himmels willen, mussten sie ihr Lehen in aller Öffentlichkeit führen? Wo beginnt die Privatsphäre und wo endet der öffentliche Raum? Hört auf, Krach zu machen! Ich kann hören!
Es war nicht mal der Geräuschpegel selbst, der Jacques störte - obwohl der schon schlimm genug war -, es war das Wissen, dass dort draußen Menschen waren, die diesen Lärm verursachten, Menschen, die in so enger räumlicher Nähe zu ihm lebten, dass es ihm unmöglich war, sich wirklich einsam zu fühlen.
Um das Leben zu ertragen, arbeitete - und im Anschluss daran las - Jacques vorwiegend nachts, wenn keine Geräusche von Gartenarbeiten, Bauarbeiten oder LKWs mit ihrem ewigen Piepen beim Rückwärtsfahren zu hören waren. Er versuchte es damit, aufs Land zu ziehen, merkte aber schnell, dass das Landleben genauso nervige Geräusche mit sich brachte, nur eben andere: bellende Hunde (Guter Gott, bellten Hunde auf dem Land eigentlich pausenlos?), landwirtschaftliche Maschinen, Hilfsgeneratoren, Motorsägen und Geländewagen.
Was sollte Jacques tun?
Dann fand er eines Tages bei Craigslist das Angebot für einen Job als Leuchtturmwärter. Er nahm es an - und anfangs war es herrlich.
Keine Menschen! Null! Zero! Das flüchtige Gekreisch vereinzelter Möwen und Tölpel konnte er ertragen. Diese Tiere waren nicht domestiziert. Alles war perfekt in Jacques' Welt, bis ihm die Wellen auffielen - ein Geräusch, das seit Milliarden von Jahren zu hören war und noch Milliarden von Jahren zu hören sein würde. Das unaufhörliche Branden, Klatschen und Rauschen begann sein Nervenkostüm anzukratzen. Er konnte es nicht ignorieren, und seine Überempfindlichkeit ließ es noch zehnmal schlimmer erscheinen als früher die Trampolingeburtstagsparty des Nachbarkinds oder der wendende UPS-Lieferwagen in einer benachbarten Auffahrt.
Schließlich rief Jacques seinen Arbeitgeber an und sagte ihm, er müsse kündigen - ein schlimmer Tag für ihn, da er nun dazu verdammt war, den Rest seines Lebens durch die Gegenwart anderer Menschen gefoltert zu werden.
Glücklicherweise hörte er in einer nächtlichen Radiotalkshow am PC, dass die Forstwirtschaft nach Leuten für ihre Feuerwachtürme suchte. Bingo! Jacques war sofort am Telefon. Die Forstmenschen schickten ihm ein Online-Formular, er füllte es aus, und nur eine halbe Stunde später packte er schon seine Koffer, um sich auf den Weg zu einem Wachturm irgendwo tief im Staatsforst zu machen. Dort angekommen, musste er nur noch einmal im Monat den Anblick anderer Menschen ertragen, dann nämlich, wenn seine Lebensmittel geliefert wurden, und es war ihm nur recht. Es gab keinerlei eintönige Geräusche - keine Motoren, keine Rasenmäher oder bellenden Hunde - nur Ruhe und Frieden, Einsamkeit, herrliche Einsamkeit, und seine Bücher.
Die erste Woche war der Himmel auf Erden. Der einzige Lärm, der ihn gelegentlich belästigte, kam von Düsenflugzeugen, die in acht Kilometer Höhe über ihn hinwegzogen, von Grillen um die Mittagszeit, von Mücken bei Nacht und einmal von einem nächtlichen Unwetter.
Jacques hatte jedoch seine Lesegeschwindigkeit falsch berechnet und alle Bücher, die er mitgenommen hatte, vorzeitig ausgelesen. Er begann sich zu langweilen und war dankbar, als ein Versorgungslieferwagen kam. Er bat darum, in die Stadt mitgenommen zu werden, weil er sich neue Bücher kaufen wollte, doch es wurde ihm gesagt, er dürfe seinen Turm nicht verlassen. In seiner Panik stellte er sich krank und schob vor, er müsse zum Arzt (der seine Praxis gleich neben der Buchhandlung hatte), und so ging es also in die Stadt.
Sein Fahrer hatte es eilig zurückzufahren, doch Jacques bummelte und sah sich immer noch mehr neue Bücher an, und als sie zum Wald zurückkamen, stand dieser in Flammen - ein Feuer hatte Tausende von Quadratkilometern verwüstet.
Die Forstmenschen erwogen, Jacques zu verklagen, und er beschloss, schleunigst das Land zu verlassen. Also studierte er erneut die Stellenangebote bei Craigslist und entdeckte, dass die NASA einen One-Way-Kolonisten für den Mars suchte. Dieser Pionier sollte nie mehr zur Erde zurückkehren und Jahre, möglicherweise Jahrzehnte, warten, bis ihm weitere Kolonisten folgten. Konnte es einen idealeren Job geben? Um das
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