Generation A
dazwischen gibt es immer Touchpoints, die unsere Geschichte definieren: die erste Liebe, eine kurze Begegnung mit dem Tod, irgendeine wissenschaftliche Erkenntnis, dann werden hohe Berge bestiegen - und dann sterben wir. Die Geschichte unseres Daseins endet für gewöhnlich lange bevor wir sterben, und in der Abenddämmerung unseres Lebens wärmen wir unsere Hände an der Glut der Erinnerung. Craigs Problem war, dass er irgendwann innehielt - sagen wir, mit achtunddreißig - und erkennen musste, dass seine einzelnen Punkte sich nicht zu einem größeren Bild verbinden ließen: Da waren ein paar unbefriedigende und von vorneherein zum Scheitern bestimmte -Beziehungen; ein so stumpfsinniger Job, dass ein Schimpanse ihn hätte erledigen können; keine Hobbys, die sich mit etwas gutem Zureden zu größeren, vitaleren Lebensäußerungen würden ausweiten lassen.
Dass er keine Geschichte hatte, stellte ihn vor die Frage, wer zuerst da war, die Henne oder das Ei. Er dachte zum Beispiel, wenn er Drachenfliegen lernen würde, könnte die Geschichte seines Lebens damit beginnen - mit einem Abenteuer! Vielleicht einer Erleuchtung in luftiger Höhe! Aber halt ... Um ein solches Abenteuer erleben zu können, hätte Craig ja zuerst mal Lust auf Drachenfliegen haben müssen. Wenn er sich blindlings in irgendwelche Aktivitäten stürzte, konnte er da denn eine Erfahrung machen, die sein Leben veränderte? Da Craig aber nun mal zu gar nichts Lust hatte, steckte er in der Ei / Huhn-Falle. Wo anfangen? Und womit? Er spürte, dass seine Versuche, eine Lebensgeschichte zu entwickeln, zwecklos waren.
Craig beschloss, sich für einen Kurs im Drachenfliegen anzumelden, doch die Frau im Bildungsinstitut, die sein Anmeldeformular entgegennahm, sah ihn an und sagte: »Sie haben doch gar keine Lust auf Drachenfliegen, oder? Sie wollen es nur lernen, damit Sie sich einreden können, ihr Leben wäre eine Geschichte.«
»Woher wissen Sie das?«
»In einem Job wie meinem kriegt man praktisch nichts anderes zu sehen: Leute wie Sie kommen rein in der Hoffnung, sie brauchten nur einen Knopf zu drücken und aus ihrem Leben würde plötzlich eine Geschichte. Sie sollten mal meine Freundin Phyllis hören, die weiter hinten arbeitet und Anmeldungen fürs Wildwasserrafting annimmt.«
Mit hängenden Schultern zog Craig wieder ab, um sich erneut zu grämen, dass es in seinem Leben keine Erzählung gab. Er war wieder bei: »Craig, der Mann, der bestenfalls existierte«.
Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung sah er Plakate, Poster und Leuchtreklamen mit sexy und charismatisch wirkenden Menschen, die ihr Leben auf Partys, Skipisten und an Stränden genossen, auf denen sich Menschen tummelten, die wie Craig oder seine Schwester Craigina aussahen. Die aufregenden Leben dieser Plakatmenschen lasteten schwer auf ihm, und als er zu Hause war, telefonierte er mit ein paar Freunden (die, das muss man sagen, Mitleid mit Craig hatten, aber nicht allzu viel Mitleid). Einer von ihnen sagte: »Ich mein, Craig, angenommen, du brichst dir ein Bein. Gut, das ist ein Problem, das man lösen kann. Oder dir wird das Portemonnaie geklaut - du kaufst dir ein neues. Aber die eigene Lebensgeschichte verlieren? Mann, das ist bitter.«
Natürlich waren alle Freunde von Craig online, kaum dass er aufgelegt hatte, und machten sich hinter seinem Rücken über ihn lustig.
Alle 93.441 von Craigs offiziellen Online-Social-Network-Freunden schickten sich Texte und IMs im Stil von: »Ooooh, ich bin Craig guckt mal her! Ich bin so irre und groovy, dass mein Leben eine Geschichte sein muss.« Oder: »Seht mal, wer hier kommt, 168 Pfund animalischer Anziehungskraft auf der Suche nach einem Königreich, das sie erobern können, einem Reich, in dem die Sonne nie untergeht, einem Reich, in dem für alle Zeit Schlachten geschlagen und gewonnen werden ... äh, oder auch nicht.«
Am nächsten Tag wollte Craig ein anderes Weiterbildungsangebot wahrnehmen und sich für den Tae-Bo-Kurs anmelden, und die Frau erinnerte sich an ihn. »Sie sind doch der Mann, dessen Leben keine Geschichte hat. Wie geht's?«
»Danke, nicht besonders. Ich dachte, Tae Bo gibt meinem Leben vielleicht ein unverwechselbares narratives Profil.«
Die Frau - sie hieß Bev - sagte: »Craig, einzigartig zu sein und ein Leben mit einer Geschichte zu führen ist die größte Herausforderung überhaupt. Früher war das viel einfacher, aber unsere moderne, publicitygeile Gesellschaft, die sieben Tage die Woche rund um die Uhr in
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