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Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Ergänzungsvariante: Schneewehe mit Erbrochenem (gefroren). Text:
    IN MEINEM FRÜHEREN LEBEN WAR ICH FINLANDIA.
    Unterdessen hatte eine leise, heitere Entspanntheit von seinem Körper Besitz genommen. Ein angenehmes Vibrieren ging in Wellen durch die Brust, drang zum Unterleib und in die Arme vor und verebbte, bevor es die Fingerspitzen erreicht hatte. Tatarski wünschte sich auf einmal sehnlichst, daß es dort ankommen möge. Er begriff, daß er zu wenig getrunken hatte. Doch die Kanne war bereits leer.
    »Ist noch was da?«
    »Ha!« machte Girejew. »Hab ich’s nicht gesagt!«
    Er erhob sich, verließ die Veranda und kam mit einer ausgebreiteten Zeitung voll getrockneter Fliegenpilzschnipsel wieder. An manchen klebten noch Fetzchen von roter Haut mit schrumpligen weißen Klecksen, an anderen Fasern von Zeitungspapier und spiegelverkehrte Buchstaben.
    Tatarski warf sich ein paar Stücken in den Mund, kaute und schluckte. Getrocknete Fliegenpilze schmeckten ein bißchen wie Kartoffelschalen, nur besser. Tatarski kam auf die Idee, daß man sie als Chips hätte verkaufen können, in Folie verpackt. Offenbar ein weiterer brachliegender Weg zum schnellen Reichtum – Jeep, Werbespot und Totschlag inklusive. Während er tüftelte, wie der Clip hätte aussehen müssen, schob er eine neue Portion nach und blickte sich um. Einige der Gegenstände, die die Veranda verschönten, fielen ihm erst jetzt auf. Zum Beispiel hing an gut sichtbarer Stelle ein Bogen Papier an der Wand – darauf ein verschnörkelter Buchstabe, Zwischending aus Sanskrit und Tibetisch, wie ein Drache mit geschwungenem Schweif.
    »Was ist das?« fragte er Girejew.
    Girejew sah zur Wand.
    »Das Hum.«
    »Wozu ist das gut?«
    »Ich reise damit.«
    »Wohin?«
    »Schwer zu erklären«, sagte Girejew. »Hum. Wenn du aufhörst zu denken, wird dir vieles klar.«
    Ohnehin hatte Tatarski seine Frage schon vergessen. Eine Woge von Dankbarkeit ergriff ihn – dafür, daß Girejew ihn hierher mitgenommen hatte.
    »Ich stecke momentan in einer schwierigen Phase, weißt du«, sagte er. »Ewig nur Banker und Werbekunden vor der Nase. Die strengen furchtbar an. Dagegen bei dir hier . . . Mir ist, als wäre ich nach Hause gekommen.«
    Girejew schien zu verstehen, was in Tatarski vorging.
    »Kinkerlitzchen«, sagte er. »Denk nicht dran. Zu mir sind letzten Winter zwei solche Banker gekommen, die wollten ihr Bewußtsein erweitern. Sind nachher barfuß durch den Schnee gerannt. Gehen wir spazieren?«
    Mit Freuden stimmte Tatarski zu. Sie liefen durch die Pforte und längs einiger frisch ausgehobener Gräben querfeldein. Ein Pfad führte zum Waldrand und schlängelte sich weiter zwischen den Bäumen hindurch. Das Kribbeln in den Armen wurde stärker, doch bis in die Fingerspitzen reichte es noch immer nicht. Als Tatarski die vielen Fliegenpilze zwischen den Bäumen bemerkte, ließ er sich zurückfallen und riß ein paar davon aus dem Waldboden. Sie waren nicht rot, sondern dunkelbraun und sahen sehr hübsch aus. Tatarski verschlang sie und eilte Girejew hinterher, der nichts bemerkt zu haben schien.
    Der Wald hörte schnell wieder auf. Sie traten auf freies Feld hinaus – ein Kolchoseacker, der sich bis zum Fluß hinabzog. Tatarskis Blick ging aufwärts: Hoch über dem Feld hingen große, reglose Wolken, und einer jener unaussprechlich melancholisch stimmenden Sonnenuntergänge, wie sie zur Herbstzeit rings um Moskau zu erleben sind, färbte den Himmel orangerot. Sie folgten einem Weg, der längs des Feldrains verlief, setzten sich schließlich auf einen umgefallenen Baumstamm. Zum Reden hatten sie keine Lust.
    Tatarski war inzwischen eine Werbekonzeption für Fliegenpilze eingefallen. Sie ging von der gewagten Hypothese aus, die höchste Form der Selbstverwirklichung eines Fliegenpilzes könnte der Atompilz sein – ein immaterieller Leuchtkörper, zu dem ein paar besonders mystisch veranlagte Myzelien vorgestoßen sind. Die Menschheit wäre als niederes Leben anzusehen, Mittel zum Zweck, dessen sich der Fliegenpilz zur Erreichung seines Ideals bedient, so wie man den Schimmel für den Käse braucht. Tatarski hob den Blick, die orangefarbenen Pfeile der untergehenden Sonne stachen ihm in die Augen, und der Gedankenstrom brach ab.
    »Du«, brach Girejew nach einigen Minuten das Schweigen, »ich muß grad noch mal an Ljoscha Tschikunow denken. Schade um ihn, nicht?«
    »Kann man wohl sagen«, erwiderte Tatarski.
    »Wie eigenartig – er ist tot, und wir leben. Obwohl ich ja

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