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Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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eingetrichtert hatte. Die Ewigkeit war reine Willkür. Hätte zum Beispiel nicht Stalin Trotzki umgebracht, sondern umgekehrt, hätten es sich andere Populationen in ihr gemütlich gemacht. Und nicht darauf kam es an, denn eines war Tatarski klar: Wie die Sache auch ausging, Mariechen hatte keine Zeit mehr, sich um die Ewigkeit zu kümmern, und sollte sie eines Tages ganz aufhören, an sie zu glauben, dann war es mit der Ewigkeit vorbei – wo hätte sie hinsollen? Oder wie er es, nach Hause zurückgekehrt, so schön in sein Notizbüchlein schrieb:
    Kommt das Ewigkeitssubjekt abhanden, so mit ihm auch alle ihre Objekte – und einzig der bleibt ein Subjekt der Ewigkeit, der wenigstens hin und wieder an sie zurückdenkt.
    Von da an schrieb er keine Gedichte mehr: Mit dem Dahinscheiden der Sowjetmacht hatten sie allen Sinn und Wert verloren. Seine allerletzten Verse, bald nach diesem Erlebnis niedergeschrieben, waren jahreszeitlich inspiriert von einem Lied der Gruppe DDT (Herbst, was ist das schon) und dem späten Dostojewski. Das Gedicht endete so:
    Ewigkeit – was ist das schon?
Ein alter Stuhl, der keinen Leim hat.
Wenn Mariechen es einfällt
Und sie ihn vor die Tür stellt –
Was wird dann aus uns und unserer Heimat?

Draft Podium
    Kaum war die Ewigkeit verschwunden, fand sich Tatarski in der Gegenwart wieder. Und es stellte sich heraus, daß er überhaupt nichts wußte von der Welt, die sich in den letzten Jahren um ihn herum zusammengeschoben hatte.
    Diese Welt war sehr sonderbar. Äußerlich hatte sich wenig geändert. Gut, es gab mehr Bettler in den Straßen, außerdem hatte man den Eindruck, als wären all die Dinge – Häuser, Bäume, Bänke – mit einemmal heftig gealtert und heruntergekommen. Daß die Welt im Kern eine andere geworden war, ließ sich ohnehin nicht behaupten, denn da war gar kein Kern mehr. In allem lag eine beängstigende Ungewißheit. Jedenfalls riß der Strom von Mercedes und Toyota auf den Straßen nicht ab, in denen kernige junge Männer saßen, absolut überzeugt von sich und dem, was um sie her abging, und wenn man den Zeitungen glauben wollte, gab es sogar etwas wie eine Außenpolitik.
    Ansonsten zeigte das Fernsehen dieselben Visagen, von denen einem schon die letzten zwanzig Jahre übel geworden war. Und aus ihnen tönte haargenau das, wofür sie die anderen früher eingelocht hatten, nur viel forscher, bestimmter und radikaler. Tatarski drängte sich die Vorstellung auf, wie in Deutschland anno sechsundvierzig ein Herr Doktor Goebbels mit hysterisch brüllender Stimme übers Radio verkündet, die Faschisten hätten die Nation in den Abgrund geführt, der Ex-Kommandant von Auschwitz leitet die Kommission zur Verfolgung von Naziverbrechern, SS-Generäle predigen in einfachen und eingängigen Worten das liberale Werteverständnis, und bei alledem hat ein zu Weisheit und Vernunft gekommener Gauleiter Ostpreußen das Sagen. Tatarski hatte die Sowjetmacht gehaßt, und zwar so ziemlich in allen Existenzformen, dennoch war er sich nicht sicher, ob sich der ganze Aufwand gelohnt hatte: das Imperium des Bösen abzuschaffen, damit aus ihm eine Bananenrepublik des Bösen wird, die noch dazu Bananen aus Finnland importiert.
    Im übrigen war Tatarski noch nie ein großer Moralist gewesen, weswegen ihn die Bewertung dessen, was da vor sich ging, weit weniger beschäftigte als die Frage, wie man überlebte. Über Beziehungen, die ihm diesbezüglich hätten helfen können, verfügte er nicht, und so stellte er sich dem Problem auf die nächstliegende Weise: Er verdingte sich als Verkäufer in einem der privaten Kioske unweit seiner Wohnung.
    Die Tätigkeit war simpel, aber sie nervte. In dem Büdchen war es schummrig und kalt wie in einem Panzer; die einzige Verbindung zur Welt bestand in der klitzekleinen Luke, durch die sich gerade einmal eine Flasche Champagner zwängen ließ. Vor denkbaren Unannehmlichkeiten schützten Gitter aus kräftigen Stahlruten, die grob vor die Außenwände geschweißt waren. Abends erschien ein älterer Tschetschene mit dickem Goldring am Finger, dem er die Tageseinnahmen aushändigte; manchmal hatte er Glück und verdiente zum Festgehalt noch etwas dazu. Von Zeit zu Zeit beehrte ein Nachwuchsgangster seinen Stand und forderte mit mutierender Stimme ein Schutzgeld. Dann verwies Tatarski ihn mit müder Geste an Hussein. Hussein war ein kleiner, hagerer Kerl, dessen Augen ewig vom Opium verschleiert waren und der die meiste Zeit in seinem karg möblierten Wohnwagen

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