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Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Umhang gehüllt, seine Hände hielten zwei Bündel Schnüre, die fächerartig zur Erde führten; es ließ an Gulliver denken, den die liliputanische Armee auf diese Weise zu fesseln versucht hatte. Teiche und Kanäle, wie sie Enkidu von Amts wegen zu behüten hatte, kamen auf dem Bild nicht vor – er lief durch eine brennende Stadt, deren drei – oder vierstöckige Häuser ihm bis zur Hüfte reichten. Zu seinen Füßen hingestreckt lagen Körper mit immer gleich ausgebreiteten Armen – bei ihrem Anblick mußte sich Tatarski den unzweifelhaften Zusammenhang zwischen sumerischer Kunst und sozialistischem Realismus eingestehen. Das interessanteste Detail waren die von Enkidus Händen wegführenden Schnüre. Jede lief auf ein großes Rad zu, in dessen Mitte ein Dreieck mit grob hineingezeichnetem Auge prangte. Auf die Schnüre waren Menschenkörper gefädelt – wie die Fische, die Tatarski als Junge zum Trocknen auf die Sehne gezogen hatte.
    Auf der nächsten Seite gab es einen anderen Ausschnitt aus dem Relief, diesmal mit den Menschlein auf der Schnur. Tatarski bekam ein flaues Gefühl im Magen. Das Relief führte in abscheulichem Naturalismus vor, wie jedes Seil durch die Körper hindurchging, nämlich zum Mund hinein und zum After heraus. Die Arme mancher Leute waren zur Seite geworfen, andere gegen den Kopf gepreßt, in den Zwischenräumen schwebten großköpfige Vögel. Tatarski versuchte weiterzulesen:
    Der Überlieferung zufolge saß Endu, Gemahlin des Gottes Enki (in anderer, weniger wahrscheinlicher Version seine weibliche Hypostase, gelegentlich auch mit der Ischtar-Figur identifiziert), einmal am Ufer eines Kanals und ließ Schnüre mit schillernden Perlen durch die Händegleiten, ein Geschenk ihres Gemahls. Die Sonne schien kräftig, und Endu ward vom Schlaf übermannt. Die Schnüre fielen ihr aus den Händen ins Wasser, die Perlen glitten von den Schnüren und versanken. Hierauf beschlossen die Perlen, daß sie Menschen waren. Sie siedelten sich auf dem Grund des Gewässers an. Bald schon hatten sie eigene Städte, Könige und Götter. Da nahm Enki einen Klumpen Lehm und formte daraus einen Fischer. Er hauchte ihm Leben ein und nannte ihn Enkidu. Alsdann händigte er ihm eine Spindel mit goldenem Faden aus, hieß ihn tauchen und die Perlen einsammeln. Da dem Namen Enkidu der Name des obersten Herrschers eingeschrieben ist, verfügt er über außerordentliche Kraft, die Perlen mußten sich dem göttlichen Willen beugen, gehorsam fädelten sie sich auf den goldenen Faden auf. Einige Interpretatoren meinen, Enkidu sammele die Seelen der Toten und überführe sie auf diesen Schnüren ins Totenreich – so gesehen, ließe er sich der kulturübergreifenden Figur eines Fährmanns ins Jenseits zuordnen.
    In späteren Zeiten kam Enkidu die Funktion des Hüters der Märkte und der Bediensteten zu; etliche Darstellungen sind überliefert, wo Händler und Staatsdiener Enkidu um Beistand ersuchen. Diese Anbetungen enthalten regelmäßig die Bitte, »die Starken auf dem goldnen Faden zu erhöhen« und ihnen »Enlils Glanz auf Erden angedeihen zu lassen« (s. Enlil). Im Enkidu-Mythos sind eschatologische Motive unübersehbar: An dem Tag, da Enkidus Faden alles Lebendige auf Erden vereint, wird das Leben aufhören, denn es hat sich zu Perlen im Geschmeide der großen Göttin zurückverwandelt. Dieses für die Zukunft verhießene Ereignis wird mit dem Weitende gleichgesetzt.
    Ein schwierig zu deutendes, in mehreren Quellen ausgeführtes Detail der Legende beschreibt, wie die Menschenperlen Enkidus Schnüre emporkriechen. Sie gebrauchen hierfür nicht ihre Hände – mit diesen bedecken sie Augen und Ohren bzw. wehren die weißen Vögel ab, die sie von den Schnüren rupfen wollen. Die Schnur wird erklommen, indem man zunächst das Ende des Fadens verschluckt und sich sodann abwechselnd mit Mund und After an klammert. Wie und woher dieses pantagruelische Motiv in den Enkidu-Mythos fand, ist nicht geklärt; es könnte sich um Rudimente eines anderen, nicht überlieferten Mythos handeln.
    Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch die Räder, an denen Enkidus Fäden enden. In der Darstellung kreuzen sich Mythos und Realität: Die Räder der altsumerischen Streitwagen waren tatsächlich mit dreieckigen, außen angeschlagenen Bronzescheiben arretiert. Die aufgezeichnete, an ein Auge gemahnende Figur symbolisiert die Spindel, die den goldenen Faden aufspult. Das Rad steht für die Bewegung; wir haben es also mit einer

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