Generation P
frisch renoviert. Die Eichentüren mit Schnitzwerk und goldenen Beschlägen beeindruckten Tatarski am meisten – weil das Holz nämlich schon gerissen war und fingerbreite Spalten aufwies, die schlecht und recht mit Kitt zugeschmiert waren. Bei seiner Ankunft war Chanin bereits betrunken. Er schien bester Laune. Als Tatarski ihm noch auf der Schwelle den Umschlag entgegenstreckte, runzelte er die Stirn und winkte ab, als würde ihn soviel Übereifer kränken, doch im Ausschwingen der Geste riß er Tatarski den Umschlag aus der Hand und steckte ihn weg.
»Komm!« sagte er. »Lisa hat uns was gekocht.«
Lisa war groß, ihr Gesicht von irgendwelchen kosmetischen Schabungen gerötet. Sie bewirtete Tatarski mit Kohlrouladen, die er seit frühester Kindheit verabscheute. Um seinen Widerwillen niederzuringen, trank er viel Wodka, und als sie beim Nachtisch angelangt waren, hatte er Chanins Alkoholpegel beinahe erreicht, wodurch die Unterhaltung deutlich flüssiger wurde.
»Was haben Sie da bloß hängen?« fragte Tatarski und deutete zur Wand.
Es war die Reproduktion eines Plakats aus Stalinzeiten: schwere rote Banner mit gelben Quasten, zwischen denen sich in fröhlichem Blau der Turm des Universitätsgebäudes abhob. Das Plakat konnte gut zwanzig Jahre älter sein als Tatarski, doch der Druck schien frisch.
»Das? Hat ein Bursche aus unserem Büro auf dem Computer gemacht, dein Vorgänger übrigens. Siehst du, da wo Hammer und Sichel waren und der Stern, hat er Coca-Cola und Coke hingesetzt.«
»Tatsache!« staunte Tatarski. »Das gleiche Gelb!«
»Man muß genau hinsehen. Das Plakat hing früher bei mir überm Schreibtisch, aber die Jungs haben schief geguckt. Maljuta nahm die Coca-Cola übel und Serjosha die Fahnen. Ich mußte es abhängen und mit nach Hause nehmen.«
»Was – Maljuta? Der hat doch selber überm Tisch die schärfsten Sprüche hängen. Haben Sie gesehen, was er gestern angeklebt hat?«
»Nein, noch nicht.«
»Da steht: Genosse! Wie hältst du es mit dem Geld? Okay, das ist ein Impuls, den man noch versteht. Aber dann: Pogrom ist Programm. Marke ist Quark.«
»Ja, und?«
Tatarski hatte das Gefühl, daß Chanin an derlei Sentenzen nichts auszusetzen fand. Und plötzlich schien es ihm, als hätte er selbst daran nichts auszusetzen.
»Marke ist Quark – was soll das heißen?«
»Quark? Weißt du nicht, was Quark ist? So heißt bei uns, was die Profis in Amerika »brand essence« nennen. Der konzentrierte Ausdruck sämtlicher Imagepolitik für eine bestimmte Marke. Der Quark von Marlboro ist Freiheit und Abenteuer. Der Quark von Parliament ist der Jazz. Und so weiter. Kennst du das wirklich nicht?«
»Doch, doch, natürlich. Für wen halten Sie mich. Nur dieser komische Ausdruck war mir neu.«
»Tja, was willst du machen«, sagte Chanin. »Hier in Asien drückt man sich manchmal komisch aus.«
Tatarski stand auf.
»Wo ist bei Ihnen die Toilette?« fragte er.
»Von der Küche aus die nächste Tür.«
Beim Eintreten prallte Tatarskis Blick auf das Großphoto eines Brillantcolliers mit der Aufschrift De Beers. Diamonds are forever › welches der Tür gegenüberhing. Das haute ihn schon wieder ein bißchen um; einige Sekunden brauchte er, sich zu entsinnen, wozu er die Toilette aufgesucht hatte. Als er es wieder wußte, riß er einen Streifen Toilettenpapier ab und schrieb:
1) Brand essence (Quark). In alle Konzeptionen einfügen anstelle »psychologische (Heraus-)Kristallisation«.
2) Betr. Parliament mit Panzern auf der Brücke: Slogan austauschen! Anstelle Dulcis fumus patriae: All That Jazz.
Er steckte das Blatt in die Brusttasche, zog aus konspirativen Gründen die Spülung und kehrte in die Küche zurück, wo er dicht vor das Plakat mit der Rotbanner-Cola trat.
»Faszinierend«, sagte er. »Als wär’s dafür gemacht, he?«
»Und ob! Wundert dich das? Weißt du, wie Werbung auf spanisch heißt?« Chanin bekam den Schluckauf. »Propaganda. Du und ich, wir sind ideologische Mitarbeiter, falls du das noch nicht gemerkt hast. Propagandisten und Agitatoren. Bei dem Verein hab ich übrigens schon früher gearbeitet. Im Zentralkomitee vom Jugendverband. Die Jugendfreunde sind heute alle Bankiers, bloß ich bin . . . Na, ich kann dir sagen: Eine Perestroika habe ich nicht nötig gehabt. Früher hieß es: Der einzelne ist nichts, das Kollektiv ist alles. Und heute: Image ist nichts. Durst ist alles. Agitprop bleibt Agitprop. Wörter sind austauschbar.«
Bei Tatarski ging plötzlich eine
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