Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
Vom Netzwerk:
und zermahlte sie zwischen den Zähnen zu einem winzigen Klümpchen Brei, das er verschluckte. Dann legte er sich auf das Sofa und wartete.
    Aber einfach so dazuliegen langweilte ihn. Er stand auf, begann zu rauchen und lief erneut durch die Wohnung. Als er vor dem Wandschrank stand, kam ihm ein Gedanke: Er hatte nach jener abenteuerlichen Landpartie noch nicht wieder in den Tia-mat-2-Hefter geschaut. Ein klassischer Fall von Verdrängung – kein einziges Mal war er auf seinen Vorsatz zurückgekommen, die darin liegenden Texte zu Ende zu lesen, ohne daß er hätte behaupten können, es vergessen zu haben. Und genauso war es ihm mit der Briefmarke gegangen – so als wären beide Gegenstände für den besonderen Moment reserviert gewesen, der unter normalen, geregelten Lebensumständen nie eintritt. Tatarski nahm den Schnellhefter vom obersten Brett und ging damit ins Wohnzimmer zurück. Der Hefter enthielt viele aufgeklebte Photographien. Eine fiel beim Öffnen des Hefters heraus, er bückte sich und hob sie auf.
    Abgebildet war das Fragment eines Steinreliefs: ein Stück Himmel mit eingemeißelten Sternen. Im unteren Teil, vom Bildrand abgeschnitten, gab es zwei erhobene Hände zu sehen. Die Sterne waren, wie sie sein mußten: uralt, riesengroß und lebendig. Solche, wie sie den Menschen schon lange nicht mehr leuchteten, die steinernen Helden vorsintflutlicher Bildhauereien hatten sie für sich allein. Wobei es wohl nicht die Sterne waren, die sich seither geändert hatten, sondern die Menschen. Jeder Stern bestand aus einem Kreis in der Mitte sowie acht spitzen Strahlen, zwischen denen sich symmetrische Bündel von Schlängellinien drängten.
    Tatarski fiel auf, daß die Linien einen schwachen, schillernden rot-grünen Widerschein besaßen, wie das Bild eines schlecht justierten Monitors. Die glänzende Oberfläche des Photos hatte zudem einen Regenbogenglanz angenommen, der vom Bild selbst ablenkte. Es geht los! dachte Tatarski. Ging ja wirklich schnell.
    Tatarski fand die Seite, von der sich das Photo gelöst hatte, fuhr mit der Zunge über den eingetrockneten Kaseinleimfleck und klebte es wieder an. Dann blätterte er die Seite vorsichtig um und strich sie mit der Handfläche glatt, damit daß Photo besser haftete. Währenddessen fiel sein Blick auf das nachfolgende Photo, und der Hefter entglitt beinahe seinen Händen.
    Das Photo zeigte das Gesicht, das auf der Marke gewesen war. Zwar aus einem anderen Winkel aufgenommen, mehr von der Seite, doch es gab keinen Zweifel.
    Es handelte sich um eine Gesamtansicht des Reliefs vom vorherigen Photo. Tatarski erkannte die Stelle mit den Sternen sofort wieder. Letztere waren nun klein und fielen wenig auf; die erhobenen Hände aber gehörten, wie sich herausstellte, zu einer winzigen Menschenfigur auf dem Dach eines Hauses, erstarrt in der Pose des Entsetzens.
    Die zentrale Figur, deren Gesicht Tatarski bereits kannte, war um ein Mehrfaches größer als die auf dem Dach und die, die es außerdem gab. Der Mann hatte diesen Spitzhelm auf dem Kopf und ein rätselhaftes, etwas trunkenes Lächeln auf den Lippen. Der Gesichtsausdruck, wie die alte Darstellung ihn verewigt hatte, war skurril, beinahe absurd – jedenfalls so vertraut, daß Tatarski hätte glauben wollen, das Relief wäre nicht vor drei Jahrtausenden in Ninive, sondern Ende letzten Jahres in Jerewan oder Kalkutta entstanden. Statt eines spatenförmigen, symmetrisch gelockten Wallebarts, wie er sich für einen alten Sumerer gehörte, hatte der Mann ein paar mickrige Fransen am Kinn, und wenn es eine Ähnlichkeit festzustellen gab, dann mit Kardinal Richelieu, Uncle Sam und Väterchen Lenin.
    Tatarski blätterte hastig um und stieß auf den zugehörigen Text:
    Enkidu (sumer., »Enki schuf«) – Gott und ursprüngl. Fischer, Diener des Gottes Enki (Herrscher der Erde). Schutzgott der Großen Lotterie, Hüter der Teiche und Kanäle; überliefert sind außerdem an E. gerichtete Beschwörungen wider verschiedene Erkrankungen des Verdauungstraktes. Aus Lehm erschaffen wie Adam im A. T. – die tönernen Täfelchen mit den Lotteriefragen galten als das Fleisch des Enki und der in seinem Tempel bereitete, rituell verabreichte Trunk als dessen Blut.
    Das Lesen fiel Tatarski schwer, der Sinn erreichte ihn kaum, die Buchstaben tanzten, schillerten und blinkten in allen Regenbogenfarben. Also sah er sich lieber noch einmal die Abbildung der Gottheit genauer an. Enkidu war in einen mit lauter ovalen Plättchen besetzten

Weitere Kostenlose Bücher