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Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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etwas anderes, das war seltsam: Nicht die Sonne spiegelte sich in der Pfütze, nein, umgekehrt, alles – Straße, Haus, andere Häuser, andere Menschen, er selbst – spiegelte sich in der Sonne, und die konnte gar nichts dafür, sie hatte nicht einmal eine Ahnung davon.
    Dieser Gedanke mit Pfütze und Sonne machte Tatarski glücklich; vor Entzücken und Ergebenheit brach er in Lachen aus. Alle Probleme im Leben, all das, was ihm unlösbar und schrecklich vorgekommen war, hatte aufgehört zu existieren – die Welt war für den Augenblick so verwandelt wie sein Sofa im Spiegel des Fensterflügels.
    Tatarski kam wieder zu sich. Er saß auf dem Sofa – die Seite noch zwischen den Fingern, die er gerade hatte umblättern wollen. In seinen Ohren pulsierte ein Wort, das er nicht kannte: Sirruch, vielleicht auch Sirruf. Das war sie: die Antwort, die die Figur gegeben hatte.
    »Sirruch . . . Sirruf. . .«, repetierte er. »Nie gehört.«
    Das eben noch genossene Glück war einer großen Bestürzung gewichen. Ihm schien, daß man derlei nicht wissen durfte, da man nicht wußte, wie mit solchem Wissen zu leben war. Vielleicht bin ich der einzige, der es weiß? dachte er nervös. Dann kann es unmöglich sein, daß ich mit diesem Wissen weiter hier herumlaufen darf. Wenn ich es nun jemandem weitersage? Obwohl – wenn ich der einzige bin, wer sollte es mir dann erlauben oder verbieten? Moment mal: Was ist es überhaupt, das ich weitersagen könnte?
    Tatarski überlegte. Ihm fiel nichts Besonderes ein. Hätte er dem betrunkenen Chanin erzählen sollen, daß sich nicht die Sonne in der Pfütze, sondern die Pfütze in der Sonne spiegelte und es also keinen Grund zur Traurigkeit gab? Gewiß, erzählen hätte er es können, aber. . . Tatarski kratzte sich im Nacken. Ihm fiel ein, daß dies schon die zweite derartige Offenbarung in seinem Leben war. Nach der üppigen Fliegenpilzmahlzeit an Girejews Seite hatte er eine Erkenntnis von gleicher Wichtigkeit gehabt, die ihm anschließend leider wieder entfallen war. Im Gedächtnis geblieben waren dürre, nichtssagende Worte, die diese Wahrheit vorgeblich in sich bargen: Es gibt keinen Tod, weil die Kugel bleibt, wenn die Fäden verschwinden.
    »Mein Gott!« murmelte er. »Wie schwer es doch ist, die Dinge beieinanderzuhalten.«
    »Das ist wohl wahr«, ließ eine leise Stimme sich hören. »Offenbarungen jedweder Länge und Breite stoßen früher oder später auf Worte. Und Worte können nur auf sich selber stoßen.«
    Die Stimme kam Tatarski bekannt vor.
    »Wer ist da?« fragte er, sich im Zimmer umsehend.
    »Sirruf ist da«, erwiderte die Stimme.
    »Soll das ein Name sein?«
    »This game has no name«, sagte die Stimme. »Es ist eher eine Funktion.«
    Tatarski war bereits eingefallen, wo er die Stimme gehört hatte: auf der Militärbaustelle im Wald. Dieses Mal sah er den Sprechenden – besser gesagt, ihn sich vorzustellen brauchte weder Zeit noch Mühe. Zunächst sah er einen Hund vor sich: eine Art Jagdhund, jedoch mit unglaublichen Krallen an den mächtigen Pfoten und einem langen, aufrechten Hals. Gedrungener Kopf, dreieckige Ohren, ein nettes, spitzbübisches Schnäuzchen und ein kleiner, kokett sich kräuselnder Schopf obenauf. Wie es aussah, lagen seitlich auch noch zwei Flügel an. Bei näherem Hinschauen mußte Tatarski sich korrigieren: Das Tier war so groß und so obskur, daß man wohl eher von einem Drachen sprechen konnte, zumal es von buntschillernden Schuppen bedeckt war (das Schillern schien sich übrigens auf beinahe alle Gegenstände im Zimmer zu übertragen). Doch trotz seines reptilischen Äußeren ging von dem Geschöpf so viel Gutmütigkeit aus, daß Tatarski keinen Schreck bekam.
    »Alles stößt auf Worte«, bekräftigte der Sirruf. »Die tiefste Offenbarung, die meines Wissens einen unter Drogen stehenden Menschen je heimgesucht hat, wurde von einer kritischen Dosis Äther hervorgerufen. Der Empfänger fand in sich die Kraft, sie niederzuschreiben, was äußerst schwierig war. Das Notat lautet: Im ganzen Universum stinkt es nach Erdöl. Von solcher Tiefe bist du noch weit entfernt. Aber gut, das ist alles Schöngeisterei. Sag mir lieber, wo du die hübsche Marke herhattest?«
    Tatarski sah den Briefmarkensammler mit seinem Album aus dem Arme Leute vor sich. Gerade wollte er Auskunft geben, da kam ihm der Sirruf schon zuvor:
    »Grischa. Der Philatelist. Das hab ich mir gedacht. Wieviel hatte er davon?«
    Tatarski sah die Albumseite mit den drei fliederblauen

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