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Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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kleinen Quadraten im Klarsichttütchen vor sich.
    »Alles klar«, sagte der Sirruf. »Zwei hat er also noch.«
    Danach verschwand er, und Tatarski kam zur Besinnung. Er hatte jetzt eine Vorstellung, wie es einem im sogenannten Delirium tremens erging, von dem er bei den russischen Klassikern des neunzehnten Jahrhunderts so viel gelesen hatte. Er hatte keinerlei Kontrolle über seine Halluzinationen. Und es war völlig ungewiß, wohin ihn der nächste zufällige Gedanke werfen würde. Ihm wurde angst. Er stand auf, ging rasch ins Bad, hielt den Kopf unter den Wasserstrahl und ließ ihn dort so lange, bis die Kälte zu schmerzen anfing. Er rieb sich die Nässe aus den Haaren und kehrte ins Zimmer zurück, wo er noch einmal das Spiegelbild im Fenster studierte. Jetzt wirkte die vertraute Einrichtung wie eine düstere Dekoration zu einem bevorstehenden Grusel, das Sofa in der Mitte wie ein Opferaltar für Großvieh.
    Wozu mußte ich diesen Dreck einwerfen? dachte er voller Reue.
    »Das frage ich mich auch!« sagte der Sirruf, der sich aus einer unbekannten Dimension seines Bewußtseins zurückmeldete. »Man sollte überhaupt keine Drogen nehmen. Psychedelika am allerwenigsten.«
    »Weiß ich selbst«, erwiderte Tatarski leise. »Inzwischen.«
    »Der Mensch hat seine Welt, in der er lebt«, sagte der Sirruf im Oberlehrerton. »Der Mensch ist ein Mensch, weil er außer dieser Welt nichts weiter sieht. Wenn du eine Überdosis LSD nimmst oder dich an Pantherpilzen überfrißt, was nun wirklich das Letzte ist, dann gehst du ein hohes Risiko ein. Du verläßt die Menschenwelt – und hättest du gewußt, wie viele unsichtbare Augen dir in diesem Moment zusehen, du hättest es niemals getan. Und sähest du nur einen winzigen Teil derer, die dir zusehen, du stürbest vor Angst. Mit dieser Handlung zeigst du an, daß es dir nicht genügt, Mensch zu sein, daß du ein anderer sein möchtest. Aber um kein Mensch mehr zu sein, muß man sterben. Willst du sterben?«
    »Nein«, erwiderte Tatarski und legte inbrünstig die Hand auf die Brust.
    »Und was für ein anderer möchtest du sein?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Tatarski kleinlaut.
    »Sag ich doch. Wenn es wenigstens eine Briefmarke aus dem sonnigen Holland gewesen wäre. Aber das, was du da eingeworfen hast, ist etwas völlig anderes. Das ist ein Sonderpassierschein, ein Dienstausweis – wer das schluckt, kommt in eine Zone, wo es nichts zu lachen gibt. Und wo man nicht einfach herumlungern kann. Was ist dein Auftrag? Hast du überhaupt einen?«
    »Nein«, bekannte Tatarski.
    »Um den Philatelisten geht es nicht, den haben wir uns vorgeknöpft. Der ist krank, wie alle Sammler. Und den Ausweis hatte er versehentlich in seinem Album stecken. Aber wieso hast du ihn geschluckt?«
    »Ich wollte den Herzschlag des Lebens spüren«, sagte Tatarski und schluchzte.
    »Den Herzschlag des Lebens? Aha. Nur zu!« sagte der Sirruf.
    Als Tatarski das nächste Mal zu sich kam, hatte er nur den einen Wunsch: das, was er eben durchgemacht und für dessen Beschreibung er keine Worte hatte, sondern nur das blanke Entsetzen, sollte sich in seinem Leben nie, nie wiederholen. Dafür war er zu allem bereit.
    »Nachschlag gefällig?« fragte der Sirruf.
    »Nein«, sagte Tatarski, »bitte nicht. Nie wieder werde ich diesen Dreck in den Mund nehmen. Ehrenwort.«
    »Dein Ehrenwort kannst du dir für den Revierwachtmeister aufheben. Falls du den morgigen Tag erlebst.«
    »Was heißt das?«
    »Was es heißt. Du müßtest wenigstens wissen, daß der Ausweis für fünf Personen galt. Und du bist hier allein. Falls du nicht zu fünft bist.«
    Als Tatarski das nächste Mal zu sich kam, hielt er es selbst für unwahrscheinlich, diese Nacht zu überleben. Eben war er noch zu fünft gewesen, und allen fünfen ging es so dreckig, daß Tatarski es für den Moment wie ein Glück erschien, in der Einzahl zu leben, und er fragte sich, wie blind die Menschen eigentlich waren, daß sie dieses Glück nicht zu würdigen wußten.
    »Bitte«, barmte er, »tu mir das nicht mehr an.«
    »Ich tue dir gar nichts an«, erwiderte der Sirruf. »Das tust du alles selbst.«
    »Darf ich eine Erklärung abgeben?« bat Tatarski winselnd. »Ich weiß jetzt, daß ich einen Fehler gemacht habe. Ich weiß, daß ich den Turm zu Babel nicht hätte anschauen dürfen. Aber ich konnte ja nicht. . .«
    »Turm zu Babel? Was soll der denn jetzt?« unterbrach ihn der Sirruf.
    »Ich habe ihn gerade gesehen.«
    »Den Turm zu Babel kann man nicht

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