Generation Wodka
verstand.
Carsten Baumann reagierte umgehend. âHat jemand einen Arzt gerufen?â Keiner antwortete. Plötzlich bemerkte er, dass sich unter dem Körper des Jungen eine Blutlache ausbreitete, die immer gröÃer wurde.
âCarsten, bist du da drüben, was ist passiert?â, hörte Baumann seine Frau rufen.
âSchnell, ruf einen Notarzt, ein Junge ist durch die Scheibe gekracht und blutet aus einer Wunde am Oberschenkel!â Er wusste, er konnte sich auf seine Frau verlassen. âLos, helft mir, wir müssen ihn in eine stabile Seitenlage bringenâ, schrie er die Kids an. Keiner der Umstehenden reagierte, also hob er mit aller ihm möglichen Vorsicht den Jungen allein auf und trug ihn ins Wohnzimmer.
Der Anblick, der sich ihm bot, konnte mit jeder Dokumentation aus dem Fernsehen über das moderne Partyleben der Teeniegeneration mithalten. Chaos, wohin man auch schaute; Flaschen, dreckiges Geschirr, Reste von verschütteten Getränken und immer noch die wummernde Musik. Der Geruch von Alkohol und Zigarettenqualm war durchsetzt mit dem Gestank von Erbrochenem.
Mit einem Blick stellte Carsten Baumann fest, dass sich ein dolchartiger Splitter in den Oberschenkel des Jungen gebohrt hatte. Schnell entschlossen riss er die Tischdecke vom Couchtisch herunter, sodass die darauf stehenden Flaschen und Gläser herunterfielen. Er zerriss es in zwei Streifen, und mit geübtem Griff band er Julian den Oberschenkel ab.
Inzwischen löste sich die Partygemeinschaft auf. Die ersten Gäste verlieÃen den Unfallort und machten sich still und leise auf den Heimweg. Der Gastgeber saà vor dem Kühlschrank und öffnete eine Flasche Bier.
Das Mädchen von der Terrasse stand wie versteinert neben Carsten Baumann. âWie heiÃt du?â, fragte Baumann das Mädchen.
âMandy.â
âIst das dein Freund?â
âNein.â
Er bat sie, einen Eimer oder eine Schüssel nebst sauberem Handtuch zu organisieren, um Julians Gesicht zu säubern. Mandy machte sich etwas zögerlich auf den Weg. Das Bad bot einen grauenvollen Anblick. Das Waschbecken war vollgekotzt und auch die Stehpinkler hatten unübersehbare Spuren hinterlassen. Der Gestank war fast unerträglich. Trotzdem gelang es Mandy unter Aufbietung aller Widerstandkräfte, einen sauberen Eimer und ein Handtuch zu finden.
Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer hörte Mandy die Sirene des Rettungswagens. Sie sah Carsten Baumann an, dessen Gesichtsausdruck sich mit einem Schlag ganz komisch veränderte. Der Mann begann leicht panisch mit einer Herzmassage. Der Kreislauf des Jungen war zusammengebrochen.
âSchnell, macht die Tür auf und lasst die Rettungssanitäter herein, der Zustand des Jungen wird immer schlechter.â
Dann ging alles sehr schnell. Zwei Sanitäter stürmten das Wohnzimmer, checkten innerhalb weniger Sekundenbruchteile die Lage und nahmen sich des Verletzten an. âMensch, Baumann, was machst du denn hier?â, meinte einer der beiden zu Carsten Baumann.
âIch bin nur der Nachbar und fange in drei Stunden meinen Dienst im Krankenhaus anâ, antwortete er.
Der Herzschlag des Jungen kam wieder in Gang und nach 20 Minuten Notversorgung wurde Julian ins Krankenhaus transportiert. Carsten Baumann verlieà den Ort, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Gäste hatten sich fast alle heimlich verdrückt oder saÃen seltsam abwesend in einer Ecke des Hauses.
Julian kam im Krankenhaus wegen seiner lebensbedrohlichen Oberschenkelverletzung sofort in den OP-Saal. Die Ãrzte mussten lange um sein Leben kämpfen. Neben der schweren Wunde hatten die Mediziner auch eine Alkoholvergiftung festgestellt.
***
Das Erste, was Julian nach zwei Tagen Bewusstlosigkeit wahrnahm, war warmes Sonnenlicht, das auf seine Bettdecke fiel â und das Piepsen von irgendwelchen Apparaten. Er konnte sein verletztes Bein nur mühsam bewegen. Irgendeine Erinnerung an den Unfall hatte er nicht.
Er brauchte mit der anschlieÃenden Reha etliche Wochen, bis er wieder auf den Beinen war. Als er wieder zu Schule ging, war die Schulpraktikumszeit vorbei. Die Stelle hatte natürlich inzwischen ein anderer. Und noch etwas bedrückte Julian: Die ersten SMS-Nachrichten, die er wieder lesen und verstehen konnte, enthielten zwar kurze Genesungswünsche, dafür aber auch zahlreiche Links zu YouTube, Facebook und anderen Internetplattformen.
Was er da zu sehen
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