Genesis Secret
war noch warm. Brummend zog Forrester seine Überschuhe aus. Eine Weile saßen sie in bedrücktem Schweigen da. Die Köstlichkeit der Frühsommerluft hatte jetzt etwas Widerwärtiges.
Schließlich sagte de Savary: »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«
»Tatsächlich?«
»Was ich damit sagen will, ist: Ich glaube, den psychologischen Hintergrund zu verstehen…«
»Ja?«
»Wir haben es hier eindeutig mit aztekischen Elementen zu tun. Die Azteken hatten … viele Methoden, Menschen zu opfern. Die bekannteste ist natürlich das Herausschneiden des noch schlagenden Herzens. Der Priester stieß das Obsidianmesser in die Brust des Opfers, öffnete den Brustkorb und riss das noch schlagende Herz heraus.«
Beide beobachteten ein Polizeiauto, das die Auffahrt heraufkam. Zwei Polizisten mit Metallkoffern stiegen aus. Sie nickten Forrester forsch zu, und er nickte zurück.
»Die Pathologen«, sagte Forrester. »Aber Sie waren gerade bei den Azteken, Hugo …?«
»Sie warfen Menschen Jaguaren vor. Sie ließen sie verbluten. Sie schossen kleine Pfeile in die Körper von Kriegern, bis sie starben. Doch eine der raffiniertesten Methoden war das Häuten. Sie hatten sogar einen speziellen Tag dafür, das Fest des Häutens von Menschen.«
»Ein spezieller Tag fürs Häuten?«
»Sie zogen feindlichen Gefangenen die Haut ab. Und dann streiften sie sich die Haut ihrer Feinde über und tanzten durch die Straßen der Stadt. Aztekische Adlige trugen oft die abgezogenen Häute ihrer Opfer: Sie betrachteten es als eine Ehre für das Opfer. Es gibt sogar eine Geschichte, der zufolge sie einmal eine Prinzessin gefangen nahmen. Ein paar Wochen später luden sie ihren Vater, einen feindlichen König, zu einem Festmahl ein, um Frieden zu schließen. Der König glaubte, sie würden ihm seine Tochter im Zuge des Friedensschlusses lebend zurückgeben. Doch nach dem Mahl klatschte der Aztekenherrscher in die Hände, worauf ein Priester in der Haut der getöteten Prinzessin hereinkam. Die Azteken glaubten, dem feindlichen König damit eine große Ehre zu erweisen. Wahrscheinlich war das Friedensangebot kein großer Erfolg.«
Forrester sah plötzlich noch blasser aus. »Sie glauben doch nicht etwa, sie streifen sich diese Haut über? Dass Cloncurry in der Haut dieses armen Teufels durch die Gegend fährt?«
»Das halte ich durchaus für möglich. Zumindest ist es das, was die Azteken getan hätten. Sie trugen die Haut eines Opfers wie einen Anzug, bis sie ihnen buchstäblich abfaulte. Der Gestank muss grauenhaft gewesen sein.«
»Jedenfalls haben wir die Haut noch nicht gefunden. Wir haben die Hundestaffel angefordert.«
»Das ist eine gute Idee. Nachdem sich die Täter so genau an die Methode der Azteken gehalten haben, ist anzunehmen, dass sie die Haut tatsächlich tragen.«
Beide versanken wieder in Schweigen. De Savary blickte über die sanft gewellte Parklandschaft mit den hohen Bäumen, die sich über den Fluss neigten: eine bukolische Idylle, wie sie englischer nicht hätte sein können. Sie war schwer in Einklang zu bringen mit diesem … diesem Ding, das nur wenige Meter weiter an dem hölzernen Rahmen hing, dem grauenhaften, kopfstehenden rosafarbenen Kadaver.
Forrester stand auf. »Stellt sich noch die Frage, wonach sie gesucht haben. Die Bande. Ich habe bereits recherchiert. Es gibt keinerlei Zusammenhang mit dem Hellfire Club.«
»Nein«, sagte de Savary. »Aber es besteht ein kurioser Zusammenhang zwischen dieser Schule und dem Nahen Osten.«
»Ach ja?«
De Savary lächelte, sehr zaghaft.
»Wenn ich recht in Erinnerung behalten habe, was ich im Zug gelesen habe, müsste der Schulkiosk dort drüben sein.« Er ging an der Vorderseite des Hauses entlang. Forrester folgte ihm. Am Ende des Südflügels grenzte ein eigenartiger Bau mit einem Giebeldach an das Hauptgebäude. Er sah aus wie eine Kapelle. De Savary blieb davor stehen.
Forrester blickte auf das rot-schwarze Muster der imposanten Metalltür: geflügelte Löwen, metallisch glänzend. »Was ist das denn?«
»Das ist die sogenannte Nineveh Porch. Sie weist enge Bezüge zum Irak und zu Sumer auf. Sollen wir mal nachsehen, ob unsere Freunde hier waren?«
Forrester nickte.
Die Tür ging fast wie von selbst auf, als de Savary dagegendrückte. Dahinter sah es, abgesehen von den seltsamen Glasfenstern, wie in einem ganz normalen Schulkiosk aus. Es gab einen Pepsi-Automaten. Eine Registrierkasse. Und über den Fußboden waren wild Tüten mit Snacks und Chips verstreut.
Weitere Kostenlose Bücher