Genial gescheitert - Schicksale großer Entdecker und Erfinder
vermutet, dass diese Abweichung mit einer Längengradverschiebung erklärt werden könne. 22
Was Wegener aber »am meisten, oder besser gesagt, fast allein beunruhigt, ist der Umstand, dass ich auf die Frage nachden wirkenden Kräften keine Antwort zu finden weiß«. Doch mit der Hypothese seines Grazer Kollegen Otto Ampferer von Magmaflüssen im Erdinnern war er auf dem richtigen Weg: »Unterströmungen haben Amerika nach W[esten] geführt.« 23
Unentwegt sammelte Wegener Forschungsergebnisse, um den Indizienbeweis für seine Theorie immer überzeugender zu machen. Schon 1922 erschien die dritte Auflage seines Buches, die sich wieder wesentlich von der vorherigen unterschied. So legte Wegener hier nicht mehr so viel Gewicht auf die Argumente aus der Paläoklimatologie. Nicht, weil er diese mittlerweile für unwichtig hielt, sondern weil er gemeinsam mit seinem Schwiegervater ein Buch über ›Die Klimate der geologischen Vorzeit‹ verfasst hatte, das 1924 erschien. Köppen war zu dem Zeitpunkt bereits 78 Jahre alt, aber geistig topfit. In diesem Buch wandten die beiden erstmals die Theorie der Kontinentalverschiebung konsequent auf paläoklimatische Probleme an.
Während Wegener weiter an seiner Theorie feilte, ergab sich plötzlich die Gelegenheit für einen beruflichen Aufstieg. Im April 1924 wurde er an die Universität Graz berufen, wo es einen der ganz wenigen Lehrstühle für Meteorologie gab. Mit Sack und Pack zog die mittlerweile fünfköpfige Familie nach Österreich, wo sie die glücklichste Zeit ihres Lebens verbrachte. In der knapp bemessenen Freizeit wanderte und kletterte die Familie oft in den Bergen, so dass Wegener bald alle Gipfel kannte. Für Geselligkeit mit Freunden blieb indes wenig Zeit, weil Wegener die Abende zum Arbeiten brauchte. Bei seinen Studenten war er äußerst beliebt, nicht zuletzt, weil er manchmal von seinen faszinierenden Expeditionen erzählte und dazu Fotos herumreichte.
In Graz trug er weiter Fakten für die vierte Auflage seines Buches zusammen. Währenddessen erschienen nun auch nach und nach Übersetzungen der dritten Auflage im Ausland. Die Reaktionen waren immer noch überwiegend ablehnend. In Frankreich meinte der Geologe Pierre Termier, WegenersTheorie wirke auf ihn wie der Traum eines großen Poeten, der sich in Dampf und Rauch auflöse, sobald man nach ihm greife. In Belgien wurde die Theorie in Bausch und Bogen verworfen, ähnlich wie in Italien. Überraschend unvoreingenommen, pragmatisch und positiv erwiesen sich die Wissenschaftler in den Niederlanden und der Schweiz. Der schweizerische Geologe Elie Gagnebin wunderte sich 1922, dass man in Frankreich lebhaft über Einstein und Freud diskutieren würde, aber nicht über Wegener.
In New York kam es 1926 zu einem denkwürdigen Symposium der American Association of Petroleum Geologists. Es wirkte wie ein öffentliches Schiedsgericht, bei dem der Geologe Willem van Waterschoot van der Gracht als einziger Verteidiger auftrat und die Theorie Wegeners vortrug, der selbst nicht anwesend war. Fast alle Teilnehmer lehnten die Kontinentaldrift kategorisch ab. Unwissenschaftliches Arbeiten war noch einer der geringen Vorwürfe. Der Paläontologe Eduard Berry meinte, das Ende sei ein Zustand der Berauschtheit, worin man die subjektive Hypothese als objektive Wahrheit betrachte. Nach dieser vernichtenden Niederlage war die Kontinentaldrift-Theorie in den USA für vierzig Jahre nahezu tot.
Derweil arbeitete Wegener unentwegt weiter. 1929 erschien sein Werk in der vierten Auflage. Aus dem ursprünglich 17seitigen Vortragsartikel war mittlerweile ein 230 Seiten umfassendes Buch geworden. Wieder einmal hatte er viele neue Informationen gesammelt und den Aufbau umgestellt. So erschienen erstmals drei Bilder, die die Verteilung der Kontinente in drei Zeitaltern zeigten: Im Karbon (nach heutiger Datierung vor rund 300 Millionen Jahren) bildeten die Kontinente den geschlossenen Block Pangäa. Im Eozän (vor fünfzig Millionen Jahren) hat sich der Südatlantik bereits geöffnet. Die letzte Karte, von vor etwa zwei Millionen Jahren, ähnelt der heutigen schon sehr.
Doch mittlerweile stieß auch das Arbeitstier Wegener an seine Grenzen: »Denn es übersteigt die Arbeitskraft des Einzelnen,die lawinenartig wachsende Literatur über die Verschiebungstheorie in den verschiedenen Wissenschaften lückenlos zu verfolgen«, schrieb er im Vorwort. Und geradezu poetisch fügte er hinzu: »Wir stehen ihr [der Erde] wie der Richter
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