Gentlemen, wir leben am Abgrund
das Flackern an den Wänden der Häuser, den Grund dafür erkannte man nicht.
Am Armaturenbrett seines Wagens hing ein Bild, das Mia für eine Freundin gemalt hatte, Buntstift auf Tonpapier. Wir sprachen von unserenTöchtern, seine kurz vor der Einschulung, meine gerade zwei Wochen alt. Apropos Kindheit. Wir sprachen von Düsseldorf und Hagen und Hamburg. Das Gespräch bog ab, irgendwie führte es zum Coming-out meines Onkels mit 55, wir redeten über den Sieg der Genetik über das soziale Umfeld. »Was kommt, das kommt«, sagte Femerling. Apropos Genetik. Wir kamen auf den Tod seines Vaters vor elf Jahren zu sprechen, Krebs, und dass der Anruf mit der schlechten Nachricht kam, als er und Caroline in einer Mall in Santa Monica waren. Er sei sofort nach Hamburg geflogen, aber seinen Vater habe er nicht mehr gesehen. Er habe ihn nicht sehen wollen, es ging ihm um die Bilder, die seine Erinnerung sein würden. Seine Mutter starb vier Jahre später in einem Krankenhaus in Düsseldorf, er erinnert sich an den letzten Nachmittag mit ihr, direkt nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise nach New York 2004.
Apropos Düsseldorf. Apropos Westen. Wir überquerten Unter den Linden und sprachen von der Zeit, als wir gegeneinander gespielt hatten, Femerling für ART Düsseldorf, ich für Brandt Hagen. Wir hatten beide verschwommene Erinnerungen an diese Jahre, ein paar allerdings waren klar und deutlich: ein Mitspieler hier, ein bestimmtes Spiel dort, ein Endergebnis, eine Spielszene. Femerling erzählte, wie er das erste Mal einen Basketball in die Hand genommen hatte, er erzählte von Gerrit Terdenge, der damals der beste Spieler im Westen gewesen war, wie wir Jahrgang 1975. Die Leverkusener waren damals die beste Mannschaft im Westen gewesen, wir erinnerten uns an den langhaarigen Marian Soundso, sein Gegenspieler, mein Gegenspieler. Cizicki? Cyzycki? Der Nachname war uns entfallen. Ich erinnerte Femerling an meinen Dunking über ihn, zumindest war er in der Nähe gewesen, aber er wusste nicht, wovon ich sprach. Es war in der zweiten Halbzeit gewesen, mein bestes Spiel in all den Jahren. Ich erinnerte mich an den Geruch der Leverkusener Carl-Diem-Halle und das Geräusch der Autobahn nebenan. An das Gefühl des Absprungs, rechts, links, hoch, an den kurzen Schmerz am Handgelenk und das Zurücklaufen danach. »In deiner Erinnerung, Herr Autor«, sagte Femerling. »Im Leben nicht.«
Patrick Femerling war erst mit fünfzehn Jahren zum Basketball gekommen, und als er achtzehn war, hatten sich die Bundesligaclubs für ihn interessiert. In seinem letzten A-Jugend-Jahr war er mit Düsseldorf bei den nordwestdeutschen Meisterschaften in Berlin-Lichterfelde angetreten, aber Femerling hatte nicht gut gespielt. »In jedem Spiel habe ich elf Punkte erzielt«, sagte er, »keinen mehr, keinen weniger. Elf.« Nach dem letzten Spiel habe er mit seinem Team vor der Halle herumgelungert, als die Trainerlegende Svetislav Peši ć vorbeikam. Peši ć sei extra wegen des dünnen Düsseldorfer Jungen nach Lichterfelde gekommen, der er damals gewesen sei. »Zwei dreizehn und neunzig Kilo.« Er habe auf einer Bierkiste gesessen und eine Zigarette geraucht, als Peši ć die Halle verließ. Damals hätten alle geraucht und nach dem Spiel Bier getrunken. Peši ć habe den Kopf geschüttelt und sei gegangen. Achtzehn Jahre später, im Stau auf der Friedrichstraße, musste Femerling darüber lachen. Er sprach oft von Svetislav Peši ć , dem »Alten«, mit dem er seine größten Erfolge und besten Jahre verbracht hatte. Jeder in der Mannschaft hatte seine Peši ć -Anekdote, die Deutschen, die Serben. Alle konnten ihn imitieren. »Aus dieser Femerling«, sagt Femerling mit rollendem R und schelmischem Grinsen, »aus dieser Femerling wird nie was!«
Eine beispiellose Karriere folgte. Anstatt nach Berlin zu gehen, wechselte Femerling zunächst an die University of Washington in Seattle. Drei Monate litt er unter dem Kulturschock, verlor an Gewicht und ließ sich im Training durch die Zone schubsen. Er hatte keine Ahnung gehabt, was ihn am College erwarten würde. Einmal erwischte ihn sein Coach hinter dem Studentenwohnheim beim Rauchen und las ihm die Leviten. Femerling biss sich durch, gewöhnte sich an die neue Umgebung und das winzige Zimmer, das er mit drei anderen Studenten teilen musste, »das schwarze Loch«. Femerling studierte Soziologie mit Schwerpunkt Kriminologie, ernährte sich von hochkalorischen Eiweißdrinks und legte an Gewicht zu. Ab
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