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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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PlayStation. Und nur spärliche Hinweise auf Femerlings Karriere: Über einem Schreibtisch baumelten die gesammelten VIP – Ausweise und Akkreditierungen, an derGarderobe hing eine schwarz-rot-goldene Regenjacke der deutschen Nationalmannschaft. Diese Wohnung war über Jahre gewachsen und wurde bewohnt. Hier lebte kein Saisonarbeiter für ein paar Monate, hier hatte sich jemand Gedanken über das Leben gemacht.
    »Und hier!« Mia verschwand in einem weiteren Flur, der wahrscheinlich zu den Schlafzimmern führte, vielleicht zum Schuhmuseum. Ich überlegte, ob ich hinterhergehen und heimlich fotografieren sollte, ließ es dann aber sein, um nicht mit Kamera in Femerlings Kleiderschrank erwischt zu werden (Recherche!, hätte ich gerufen, während Femerling mich am Schlafittchen packte und vor die Tür setzte). Ich nahm mir vor, später einmal nachzufragen, und ging zurück. »Mia«, rief Femerling aus der Küche, und Mia kam angerannt. »Siegerländer mit Teewurst«, sagte Femerling. »Sie könnte sich ausschließlich davon ernähren.«
    Das Spiel begann. Femerling stellte das Abendbrot auf den Tisch: Wurstbrot und Wasser für Mia, Pistazien und Bier für uns. Wir sahen zu, wie die Mannschaft einlief, wie die Kommentatoren analysierten, wir hörten, wie auf Femerlings Fehlen hingewiesen wurde. Mia aß und stand immer wieder auf.
    »Wer ist das?«, fragte sie.
    »Das ist der Sven«, erklärte Femerling. »Den kennst du doch. Der Papa von Nicola.«
    »Und das?«
    Mia baute einen Fitnessparcours durch den Raum, sie kletterte über das Sofa, krabbelte unter dem Tisch durch, sie keuchte, sie machte Liegestütz, wie Fünfjährige Liegestütz machen. Sie setzte sich auf den Gipsersatz ihres Vaters und schaukelte. »Zirkeltraining, Papa«, rief sie. »Mach mit!« Aber Femerling konnte nicht mitmachen, und als Mia müde wurde, wippte er sie auf dem Plastikstiefel in den Schlaf. Femerling hob seine Tochter hoch und trug sie ins Bett. Dann sahen wir zu, wie seine Mannschaft gegen Oldenburg ihre Krise beendete.
    Femerling feuerte an, obwohl ihn die Mannschaft nicht hören konnte. Er schrie leise, weil er seine Tochter nicht wecken wollte. Alba lag schnell mit zehn Punkten zurück, holte dann aber stetig auf. Wir sahen, wie Yassin Idbihi um einen Offensivrebound kämpfte. »Immer dabei, Yassin ist bei jedem Rebound dabei!« Femerling war enthusiastisch.Man sah ihm an, wie gerne er in Oldenburg sein würde statt in Berlin mit einem Schriftsteller vor einer Schüssel Pistazien.
    »Siehst du? Der ist immer mittendrin!«
    Alba übernahm kurz vor der Halbzeit die Führung, aber das Spiel blieb knapp. Auf dem Bildschirm lieferte Derrick Allen ein sehr gutes Spiel ab, 28 Punkte und zehn Rebounds, und Taylor Rochestie führte Regie, als wäre er schon die ganze Saison der Berliner Aufbau. Femerling klatschte, er stöhnte und hätte mit einem Handtuch gewedelt, wenn er ein Handtuch gehabt hätte. Femerling war gelernter Kapitän. Das Spiel ging mit 81:93 an Berlin.
    Zwei Wochen nach Femerlings Verletzung verpflichteten Baldi und Mithat einen Spieler, der zur nächsten Center-Generation gehörte. Miro Raduljica war 22 und galt als eines der größten europäischen Talente. Er hatte ähnliche Qualitäten wie Femerling, er war beweglich, körperlich stark und spielintelligent (er war exakt gleich groß). Miro Raduljica hatte eine Stimme wie eine Basstrommel, einen Hang zu Geschwindigkeitsübertretungen und wohldosierten Lügengeschichten. Wenn er sprach, sah er oft zu Boden und erst wieder auf, wenn die Pointe kam. In der Pressekonferenz zu seiner Begrüßung erzählte er, dass er sich für Autos und Rassekatzen interessiere (Russian Blue). Wen er denn aus seinem neuen Team bereits kenne, wurde er gefragt. Raduljica sah auf und man konnte erkennen, dass er jetzt die Wahrheit sagen würde. »Everyone knows Femerling«, sagte er. »Femerling is a legend.«
    Drei Wochen nach seiner Verletzung waren Femerling und ich im Möbelhaus Höffner in Berlin Marzahn. Heute war der zweite von drei Samstags-Promotion-Terminen, die Femerling in dieser Saison zu absolvieren hatte. Es ging um die Präsentation eines riesigen Betts in Alba-Farben. Femerling trug noch immer den klobigen Schutzstiefel, aber er hatte sich an das stillgelegte Fußgelenk gewöhnt.
    Drei Männer in identischen dunklen Anzügen und roten Höffner-Krawatten begrüßten uns am Hintereingang des Möbelhauses: der Marktleiter, der Leiter der Bettenabteilung, der Marketingleiter. Alle

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