Gentlemen, wir leben am Abgrund
er arbeitete sich fit, ohne seinen rechten Unterschenkel zu belasten. »Was Patrickfür Schmerzen haben muss«, sagte Demirel, der nach seiner Verletzung ebenfalls etliche Monate um seine Rückkehr gekämpft hatte, »der Körper macht das einfach nicht mehr mit. Es ist ja nicht nur die Sehne, sondern auch die Knie. Patrick beißt sich eben immer durch. Wenn er weiter spielt, tut er seinem Körper keinen Gefallen.« Mithat hatte selbst chronische Beschwerden mit der Achillessehne gehabt. Er kannte den Schmerz in den Knien, er schien von seinem eigenen Karriereende zu sprechen, wenn er über Patrick redete.
Weil die Schwellung und Entzündung von Femerlings Achillessehne aber auch nach einem Monat Stilllegung und mehreren Wochen intensiver Reha nicht verschwanden, wechselte er inoffiziell zu seinem ehemaligen Physiotherapeuten Ramón Garcia, der jahrelang Alba-Physio gewesen war und Femerlings Knochen in- und auswendig kannte. »Ramón hat gute Hände«, sagte Femerling. Wenn die beiden arbeiteten, fachsimpelten sie wie zwei Apotheker, die in ihrer Freizeit wertvolle Oldtimer restaurierten.
Langsam verschwanden die Schmerzen, aber immer noch war Flüssigkeit in Femerlings verletztem Bein. Eine Heilpraktikerin kam zu ihm nach Hause, und während der Kapitän ausgestreckt auf dem riesigen Sofa lag, wurden ihm drei Blutegel um die entzündete Stelle gesetzt, und die Egel tranken Femerling leer. »Ich habe ein wenig nachgeblutet«, erklärte er. »Diese Tiere sondern einen Stoff namens Hirudin ab, der das Gerinnen deines Blutes verhindert.« Nach der Behandlung sei es dem Bein besser gegangen. »Aber den Tieren ging es miserabel«, lachte er. »Die waren zehn-, fünfzehnmal so groß wie vorher, und als die Heilpraktikerin sie abgenommen und in so ein Einmachglas gelegt hat, haben sie die ganze Brühe wieder ausgekotzt. Blut, Lymphe, Sekret. Alles. Das war zu viel für die, die kann man danach nicht mehr verwenden. Die werden eingefroren und weggeschmissen.«
Nicht alle mochten Patrick Femerlings Spielweise, seine hochgezogenen Socken, die in Barcelona mit seinem Namen bestickt und nach Berlin geschickt wurden. Sein Freiwurfritual, den Ball in der linken Hand, die Rechte auf dem Herzen. Das gelbe Lance-Armstrong-Live-Strong-Armband. Femerling sprang nicht hoch, sein Gang wirkte Jahr für Jahrein wenig ungelenker, es gab keine Highlight-Filmchen im Internet und keine spektakulären 40-Punkte-Spiele. Wir werden älter. Normalen Zuschauern fiel es oft schwer, seine Qualitäten zu erkennen. Ich selbst hatte mich manchmal gefragt, warum ausgerechnet Femerling eine derart grandiose Karriere gemacht hatte, wie er zu all seinen Meistertiteln und Pokalsiegen gekommen war. Als wir vor zwanzig Jahren gegeneinander gespielt hatten, hatte es bessere Spieler gegeben als ihn (als mich sowieso). Die Fachleute allerdings wussten, warum. Als Luka Pavi ć evi ć mir in seinem Bonner Hotelzimmer gezeigt hatte, warum Femerling sein intelligentester Spieler war, war es eine kleine Erleuchtung gewesen. »Siehst du? Hier? Hier? Und hier? Da steht man, wenn man das Spiel versteht. Femerling hat keine Angst, er hat Wissen, er hat den Willen.« Basketball schon wieder falsch gelesen, hatte ich mir am nächsten Morgen notiert, nur auf billig-buntes Zeug geachtet, nur Offensichtliches bemerkt.
Patrick Femerling und ich waren fast gleich alt. Ich hatte ihn all die Jahre spielen sehen, auf Videos aus Barcelona, bei den Weltmeisterschaften in Indianapolis 2002, bei den Olympischen Spielen 2008. Ich hatte ihn immer gern beobachtet, aber während der 108 Tage, in denen Patrick Femerling an seinem Comeback arbeitete und auf seine erneute Einwechslung wartete, wurde mir klar, dass meine Sympathie nicht nur persönlich war. Es war nicht nur der Zufall unserer Biografien. Patrick Femerling spielen zu sehen, bedeutete für mich, dass immer noch alles möglich war, er war der Stellvertreter meiner nicht gemachten Profikarriere. Solange die Nationalspieler älter sind als man selbst, ist man jung. Solange Femerling spielte, bestand noch Hoffnung.
Am 1. Juni rief mich mein alter Jugendtrainer zurück. Die Mannschaft und ich warteten gerade am Flughafen Tegel auf den Abflug zum letzten Playoff-Spiel nach Frankfurt. Femerling und Schultze saßen am anderen Ende der Wartehalle und tranken wie immer ihren Kaffee, zwei Veteranen auf dem Weg zur Arbeit. Femerling war wieder zurück im Team, er reiste wieder mit, aber auf seine Einwechslung musste er noch eine Woche
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