Gentlemen, wir leben am Abgrund
Kommandos der Spieler. Femerling schnallte sich an, dann fuhr er los. Wir bogen um die nächste Straßenecke, um noch eine, dann standen wir im Stau auf der Friedrichstraße. Zähfließender Verkehr auf der Leipziger. Stau am Gendarmenmarkt. Mitte ist bei Sonne voller Touristen, und Femerling ist ein ruhiger Fahrer. Er hupt nicht, er fährt das Fenster herunter und wieder hoch.
»Wann geht dein Zug?«
»Zwanzig Minuten.«
»Nimmst du den nächsten.«
Das letzte richtige Spiel von Patrick Femerling war die Niederlage in Sevilla gewesen, vierzehn Punkte im eiskalten Palais Municipal de Deportes San Pablo. Er war zurück nach Berlin gekommen und hatte sich zwei Wochen mit seiner schmerzenden Haglund-Ferse und den Schuhen des Teamausrüsters herumgeschlagen. Gegen Bonn spielte er wenig, und beim Rückspiel gegen Sevilla nur noch vier Minuten.
Vor dem entscheidenden Eurocupspiel gegen Benetton Treviso hatte er die Zähne zusammengebissen, aber als er beim letzten Abendtraining in der O2 World zu einem freien Linkskorbleger hochgestiegen war, zehn Minuten vor Trainingsende, links-rechts-hoch, hatte er einen plötzlichen Schmerz in der rechten Wade gespürt. Femerling hatte sofort Heiko Schaffartzik verdächtigt, der Schmerz fühlte sich an wie ein Tritt eines kleinen Aufbauspielers. Schaffartzik war der einzige gegnerische Spieler in seiner Nähe gewesen. Aber er hatte ihn nicht getreten.
Also Kernspin. Am nächsten Morgen war Femerling in aller Frühe in Schleichers Praxis am Bayerischen Platz gefahren und hatte sein Bein in die Magnetresonanzröhre gehalten. Im Lärm der Magneten hatte er gehofft, dass sein Bein mit ein paar Spritzen und Physiotherapie wieder in Ordnung käme. Er hatte an die entscheidenden Eurocupspiele gedacht, an seine Verantwortung als Kapitän und seinen Beitrag zur Rettung der Saison, an Brian Skinner, Aron Baynes und Torin Francis, die Center der nächsten Gegner.
Femerling hatte in fünfzehn Jahren als professioneller Basketballspieler etliche kleinere Verletzungen gehabt, er hatte sich die Menisken glätten lassen, Muskelfaserrisse überstanden. »Das Übliche«, sagte er. »Leistungssport ohne Schmerzen geht nicht. Der Alltagsschmerz ist immer da. Knie, Füße, Rücken, Arme, Hände. Du lernst, den Schmerz einzuschätzen. Du lernst, ihn vom richtigen Schmerz zu unterscheiden.« Der Kapitän ist ein Veteran, und sein Körper seit Jahren ein Schlachtfeld, seine Knochen geschunden, sein pharmazeutisches Wissen enorm. Eine große Verletzung hatte er nicht gehabt. Aber als sich Schleicher die Kernspinbilder ansah, konnte er Femerling nicht beruhigen. Die Achillessehne war angerissen. Wenn man das Bein für mehrere Wochen fixieren könnte, würde die Verletzung ohne Operation heilen. Am Abend erschien Femerling auf Krücken zum Spiel gegen Treviso. Am nächsten Tag wurde ihm ein riesiger abnehmbarer Gipsersatz aus Plastik angepasst. Erst am 8. Juni 2011, 108 lange Tage nach seinem letzten Einsatz, würde Patrick Femerling wieder auf das Spielfeld zurückkehren. Im zweiten Finalspiel gegen Bamberg, für 33 Sekunden. Dazwischen lagen 108 Tage Angst und Grübelei, Arbeit und Gewichte, Eisbeutel und Blutegel.
Fünf Tage nach seiner Verletzung spielte die Mannschaft in Oldenburg, und Femerling humpelte durch die Altbauwohnung. Nur Vater und Tochter waren zu Hause. Das Haus lag in einer ruhigen Straße in Wilmersdorf, ein Treppenhaus mit Sisalmatten und geschwungenen Geländern. Die Wohnung selbst war riesig, ein wenig wie aus Schöner Wohnen , an den Wänden Filmplakate und französische Werbeplaketten der 1930er, in der Mitte der Küche ein Tresen. Kinderbilder und Spielzeug überall. Alles hier war größer als woanders: das Sofa, der Fernseher, die Kunst, die Zimmer. Die Decke hing hoch.
Femerling sortierte das mitgebrachte Bier in den riesigen Kühlschrank. Mia rutschte aufgeregt über das Parkett und zeigte mir die Räume: das Wohnzimmer, das Kinderzimmer (rosa), das Arbeitszimmer. Und hier das Badezimmer! Ich hatte gehört, dass Femerling ein eigenes Zimmer für Erinnerungsstücke hatte, sämtliche Schuhe seiner Karriere seien dort in beleuchteten Vitrinen aufgebahrt (ein Museum einer Laufbahn). Femerling sei die Imelda Marcos des deutschen Basketballs, war mir erzählt worden. Aber als ich hinter Femerlings Tochter durch die Wohnung spazierte, deutete wenig darauf hin, dass hier ein Basketballprofi wohnte: Es gab keine halb gepackten Koffer, keine Pokale, keine Trikots und keine
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