Gentlemen, wir leben am Abgrund
Entscheidungen. Laufwege bei Schnellangriffen. Würfe. Richtige Wurfauswahl. Drei-gegen-Drei, Vier-gegen-Vier. Jeden Tag, die ganze Woche, das ganze Trainingslager. Alles wurde so oft wiederholt, bis es intuitiv funktionierte, bis die Körper die Abläufe kannten. Dann würden die Einzelteile zu einem funktionierenden Ganzen montiert werden, Fünf-gegen-Fünf, in der Hoffnung, dass die Mannschaft anspringen und Fahrt aufnehmen würde. Sie sollte Rennen gewinnen, Eye of the Tiger im Autoradio.
Nach der ersten Woche Trainingslager konnte man bereits einige Fortschritte erkennen: Hollis Price, der designierte Starter auf der Aufbauposition, war mit Hamsterbacken in Kranjska Gora angekommen, jetzt wirkte er schmaler. Schultze feuerte an und weckte auf, Marinovi ć rannte und rannte, McElroy ächzte weniger, Jenkins traf besser. Der Physiotherapeut Frank Erdmann hatte jetzt alle Hände voll zu tun. Er massierte, strich Muskeln aus und dehnte. Er füllte Eis in Plastikbeutel und band sie mit Frischhaltefolie auf Knie und Sprunggelenke.
Das Training wurde komplizierter. Die physische Erschöpfung nach unzähligen Sprints, Shuttle Runs, gestemmten Gewichten und stundenlangem Individualtraining war groß. Hi-Un Park verteilte Vitamine und Mineralien. Die ersten Schmerzmittel kamen dazu. Die Einzelteile wurden jetzt zu Spielsequenzen, Verteidigungsrotationen und Passstafetten zusammengebaut. Die Spieler gewöhnten sich an den Rhythmus, beim Essen wurde gesprochen und herumgealbert. Die unsichere Spannung der ersten Tage war einer konzentrierten Arbeitsatmosphäre gewichen.
Pavi ć evi ć wirkte entspannter, er war in seinem Element. Er lief jetztseltener mit gesenktem Kopf durch die Halle und murmelte vor sich hin, manchmal wich er jetzt ab von der geskripteten Rhetorik seiner Trainingspläne und suchte nach motivierenden Worten: »Let’s get better, Gentlemen! Zeigt mir den Willen! Ich will euren Willen sehen!« Manchmal warf er der Mannschaft seine Weisheiten an den Kopf: »We’re only as good as our weakest part.« Er griff zu Tiervergleichen: »Ihr müsst Katzen sein. Move like a cat! Move like a cat!« Manchmal spottete er: »Schau mich an, 42 Jahre alt und kaputter Rücken, und trotzdem gehe ich an dir vorbei wie nichts! Du siehst mich gar nicht!« Der Coach machte Witze: »Hier hast du zwei Euro, Seiferth, wenn du deinem Gegner etwas schenken willst, geh zum Bäcker und kauf ihm ein Stück Sahnetorte!« Er provozierte die Veteranen, er malträtierte die jungen Spieler: »What did we do all this shit for? Damit du einfach machst, was du willst? Willst du ins Team, young Joey? Oder willst du nach Hause?«
Jedes Spielsystem wiederholte er, bis es funktionierte. Er gab ihnen Namen, sie hießen Fist Rotate und One down. »Nochmal! Nochmal! Nochmal!«, dirigierte Pavi ć evi ć . »One more time, hoppa!« Am dritten Tag beendete der Coach das Training erstmals mit einem Lob: »Good job, gentlemen, and good night!«
Ein anderes Bild von Luka Pavi ć evi ć : Die Mannschaft in Zweierreihen auf dem Alpenschotterweg zwischen Trainingshalle und Hotel, vorbei am Kindergarten. Die Kinder rannten zum Zaun und schrien vor Freude. Der Coach ging an der Spitze, seine Spickzettel in der Hand. Dahinter die Trainer, dann Zimmernachbar neben Zimmernachbar, zum Schluss Julius Jenkins in Badelatschen, die Schuhe unter dem Arm, Kopfhörer auf den Ohren.
»Kdor ne skače ta ni Slovenc – Hej, hej, hej«, sangen die Kinder, »wer nicht hüpft, ist kein Slowene.«
Die Spieler waren vor lauter Training und Monotonie zu konzentriert, zu müde, zu uniformiert, um zu reagieren. Ich weiß nicht, ob ich richtig gesehen habe, eigentlich lief ich zu weit hinten, aber der serbische Montenegriner Luka Pavi ć evi ć sprang sehr kurz und verstohlen in die Luft, wie ein Junge auf dem Schulweg. Er lächelte die Kinder an, wie er sonst selten lächelt, und die Kinder lachten zurück.
Mithat Demirel ist ein Zocker. Am freien Tag in Kranjska Gora trieb er Konstantin Lwowsky über den Tennisplatz und in den Wahnsinn. Konsti wehrte sich mit allem, was er hatte, aber ihm steckte der tägliche Langstreckenlauf in den Knochen. Demirel hingegen hatte erst im letzten Herbst aufgehört, professionell Basketball zu spielen, also war er immer noch fit. Er war ein Berliner Freiplatzbasketballer, Halbtürke, Rotzlöffel und als Teenager schon Deutscher Meister mit Alba, hundertfacher Nationalspieler und Zimmerkollege von Dirk Nowitzki. Als Kind war er über den
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