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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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Zaun in den Tennisverein Preussen eingestiegen, um umsonst spielen zu können. Bei einem Bundesligaspiel gegen Göttingen hatte er im Frühjahr 2008 einen Finger seines Gegenspielers ins Auge bekommen. Zwei Jahre lang hatte er hartnäckig an einem Comeback gearbeitet, aber seine Karriere dann beenden müssen. Die Olympischen Spiele in Peking hatte er verpasst.
    Demirel war mit knappen 1,80 Metern immer ein kleiner Aufbauspieler gewesen, aber ein bissiger, schneller und dreister. Er hatte die Übersicht behalten, er hatte die Dinge kontrolliert. Im letzten Jahr war er schon einmal in Kranjska Gora gewesen, damals noch als Spieler und um in Form zu bleiben. Jetzt war er Teammanager. Am Anfang des Trainingslagers hatte er ein wenig nervös gewirkt, er hatte ständig organisiert, die kleinsten Dinge geregelt.
    Der erste Satz war eng, Demirel 6, Lwowsky 4. Im ersten Spiel des zweiten Satzes lag Konsti 40:0 vorn, man konnte seine Hoffnung auf die Überraschung erkennen. Es gab Zuschauer. Schultze und Femerling schmähten ihren ehemaligen Aufbauspieler. »Komm schon, Herr Sportdirektor, komm schon!« Demirel grinste und fing an zu spielen, seine Bälle wurden länger, 40:15, 40:30. Konsti Lwowsky spielte plötzlich gegen Mithats Nervenstärke in entscheidenden Situationen, gegen den Ehrgeiz eines eigentlich zu kleinen Nationalspielers, gegen einen Berliner Freiplatzspieler mit Berliner Schnauze, gegen die Erinnerung seiner Hände, gegen seine Kapitänsmentalität (man nannte ihn den »kleinen König«, wenn er nicht dabei war). 40:40, Vorteil, Demirel gewann das Spiel und den Satz mit 6:1. Dann brach ein Gewitter los.
    Konstantin Lwowsky schlief bereits, die Spieler ließen sich massieren, und ich spazierte mit dem Coach, Professor Mika und Demirel die leereDorfstraße entlang. Wir hatten uns Regenschirme geliehen. Alles lief nach Plan, aber das Team war noch nicht komplett. Wir setzten uns in eine vertäfelte Après-Ski-Bar, die Unterhaltung stockte. Pavi ć evi ć bekam ständig Nachrichten auf sein Mobiltelefon, er redete mit befreundeten Coaches und holte zweite und dritte Meinungen zu Bryce Taylor und Reinaldas Seibutis ein, er rief ehemalige Mitspieler an. Demirel stand unter seinem Schirm im Regen und verhandelte mit Patrick King. Irgendwann legte Pavi ć evi ć sein Telefon auf den Tisch. »Ich habe alles gesagt«, sagte er, »jetzt muss eine Entscheidung her.«
    Der Coach bestellte slowenisches Bier für uns und Wein für Sidekick Mika. Der Professor lächelte und hob sein Glas. »Maybe«, sagte er, » Живели !« – »Živeli!«. Wir hoben unsere Gläser. Luka Pavi ć evi ć erzählte Geschichten. Mihailo Švraka, sagte er, habe einmal ein Bier getrunken, es muss kurz vor den Olympischen Spielen in Sydney gewesen sein, 2000, aber das Bier sei schlecht gewesen und Mikas Bauch sei aufgequollen wie ein Ballon, man habe ihn leer pumpen müssen. Professor Mika lächelte und fuhr sich über den Bauch, »I think I explode«, sagte er, »I think I dead in Sydney.« Pavi ć evi ć lachte selten, aber jetzt lachte er laut.
    Wir tranken, Demirel stand auf der anderen Straßenseite und telefonierte. Ich fragte nach Basketballdingen, aber Luka Pavi ć evi ć hatte anderes im Kopf. »This is my thinking«, sagte der Coach und erzählte von seiner Heimatstadt Podgorica 1979, von seiner Familie, serbischen Intellektuellen und Politikern, von seiner Mutter und seinem Vater, von Split im Jahr 1984, von Jugoplastika, er erzählte von dem Autounfall, der ihn 1986 seine intakte Schädeldecke und fast das Leben gekostet habe, sein Vater sei gefahren und habe keinen einzigen Kratzer abbekommen. Er selbst sei förmlich skalpiert worden, aber man habe alles wieder festgenäht.
    Der Coach bestellte eine weitere Runde. Mika blieb beim Wein, Demirel ging im Regen auf und ab. Der Coach sprang von einem Thema zum nächsten: die Bomben auf Belgrad im Kosovo-Krieg, 1999. Wie sie in Cafés gesessen hätten und auf die Tomahawks gewartet. Wie laut die Einschläge waren, als der Fernsehsender an der Aberdareva fiel. Würfelspiele und Schnaps auf den Dächern, Anrufe aus Deutschland, CNN auf den Computerbildschirmen, CNN im Fernsehen. »Seitdem«,sagte Pavi ć evi ć , »lese ich keine E-Mails mehr, per E-Mail kommen nur schlechte Nachrichten.« Professor Mika nickte und nippte. »Und überhaupt! Kosovo Polje?« Pavi ć evi ć redete und gestikulierte. Ob ich jemals von der Schlacht auf dem Amselfeld gehört hätte, am 15. Juni 1389? Wie die

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