Gentlemen, wir leben am Abgrund
Explosivität nicht gefallen. Die Playoffs kennen keine Vergangenheit, notiere ich. Oldenburg hatdie entscheidende Saisonphase erreicht und will jetzt die alten Schwierigkeiten vergessen machen. Tabula rasa, alles neu, alles geht von vorn los.
Um 15.30 Uhr weckt Tommy Thorwarth die Spieler zum Tee. Er ruft jeden einzeln an, »Mac, wake up!«, »Staiger? Halb vier!« Immanuel McElroy kann jetzt wieder gerade gehen, Bandscheibenvorfälle hin, Lumboischialgie her. Der Mannschaftsarzt Schleicher hat ihn mehrere Wochen gespritzt, kleine örtliche Betäubungen, um den harten Muskeln eine Pause zu gönnen, dazu Vitamine und Hyaluronsäure, die Schleicher »Gelenkschmiere« nennt. Der Physio hat Mac wochenlang gedehnt und massiert.
Heute beginnen die Playoffs, die entscheidende Phase der Saison. Nur einer bleibt übrig. Man spielt so lange, bis man entweder ausscheidet oder Meister ist. McElroys malträtierter Rücken muss jetzt nur noch ein paar Spiele bis zum Saisonende halten. Auf die Meisterschaft hofft man hinter den Kulissen zwar, aber nach außen bemühen sich alle um gesund aussehenden Realismus. Der neue Center Miro Raduljica betritt den Raum. Seit er im März aus Istanbul nach Berlin gekommen ist, hat er diszipliniert trainiert. Er hat deutlich abgespeckt, an den Oberarmen kann man jetzt Muskeln erkennen. Heiko Schaffartzik kam im Dezember, mittlerweile hat er seine Sascha-Hehn-Föhnfrisur abgeschnitten. Femerling hatte ihn »Udo« genannt, nach Udo Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift Jesus loves this guy, auf Taylor Rochesties Brust steht Young & Blessed, Tadija Dragi ć evi ć hat sich ein Kreuz auf den Ringfinger der linken Hand tätowiert.
»Es gibt die klassischen Phasen, durch die eine Mannschaft geht«, erklärt mir Baldi, »die Findungsphase, die anfängliche Stabilisierung, dann kommt die Phase der Brüche, der Vibrationen und der Unruhe. Davon hatten wir jede Menge. Der Coach. Die Spielerwechsel. Dann einen schlechten Tadija, ein kleines Tief von Derrick. Staiger, der nicht richtig weiß, wo er steht. Anlaufprobleme von Heiko. Das hat sich jetzt alles gelegt.« Heute ist der erste Tag der alles entscheidenden Tage. Es gibt Tee und Sandwiches, wie immer.
Wieder ein Bus. Bobby Mitev sitzt in voller Montur vor mir und schaut angestrengt aus dem Fenster. Der neue Assistenztrainer ist ein religiöser Mensch, er trägt ein orthodoxes Holzkreuz am Revers, er trägt Gebetsketten um den Hals, zwischen den Fingern, um die Handgelenke. Er trägt ein Marienamulett. Mitev ist ein mythischer Mensch, er trägt eine Kette gegen den bösen Blick. Bobby ist Zwangsneurotiker, er folgt am Spieltag einem strikten Ritual, und niemand darf dieses Ritual stören. Auf der Busfahrt spielt er mit einem Gebetsarmband aus Türkisen und sieht aus dem Fenster auf Berlin. Die Stadt ist grün und warm, die Sonne scheint, der Busfahrer ist neu, er spielt Wolfgang Petry, Hölle, Hölle, Hölle. Von hinten brüllt jemand, er solle diese verdammte Scheiße ausmachen, also macht der Busfahrer die Musik aus. Man hört nur noch den Motor und die Stadt um uns herum, dazu Lil Wayne aus Lucca Staigers Kopfhörern.
Bobby beugt sich zu mir wie bei jedem Spiel und sagt voraus, dass Berlin die erste Playoff-Runde gegen Oldenburg ganz klar gewinnen wird. »Three zero!«, sagte er und wirbelt mit seinen Türkisen durch die Luft. »Three! Zero! I’m telling you! There is simply no way that we can lose this series!« Als wir über die Warschauer Brücke fahren, liegt die Halle im Brachland wie ein riesiger Schrein, die Sonne scheint, und in den Gesichtern der Spieler kann man ihre Heldensagen lesen, ihre Heldentaten, die Legenden ihrer kommenden Siege. Why Wait? steht in riesigen Buchstaben auf dem Marquee des Michelberger Hotels, Staiger drückt auf repeat, Lil Wayne. Die Spannung ist greifbar. »Why wait?«, fragt Bobby in den Bus, und Konsti, in Überlegungen verwickelt, in Gedanken längst in der Halle, längst in Taktik und Strategie versunken, sagt: »Gut, dass der Quatsch endlich losgeht!«
Um 16.30 Uhr hält der Bus an der O2 World. Vor dem Sportlereingang an Tor sieben wartet Katja von der Beeck in ihrem Rollstuhl. Katja ist ein leidenschaftlicher Fan der Mannschaft, immer trägt sie ihr gelbes Trikot mit Lucca Staigers Nummer 24. Ich habe sie in dieser Saison bei einigen Auswärtsspielen gesehen, manchmal hat sie sogar unten am Spielfeldrand gesessen. Bei Heimspielen empfängt sie die Mannschaft
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