Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
Vom Netzwerk:
nicht bezichtigt zu werden. Nicht vor den anderen.
    Der Coach beendet die kurze Videoanalyse mit einem Lob: »All diese Fehler in einem wirklich guten Spiel von uns. Wir brauchen Konzentration. Witze sind gut, Lockerheit ist gut. Aber wir dürfen niemals die Konzentration verlieren!«
    Die Coaches verlassen die Kabine, die Spieler nicken, sie schnüren ihre Schuhe, in ihren Gesichtern die Entscheidung, es besser zu machen. »Videoanalyse ist irre, oder?«, fragt Rochestie in die halbleere Kabine und schüttelt den Kopf. »Du denkst, du hast gut gespielt, und dann siehst du plötzlich, was für einen Scheiß du machst.« Im College, sagt er, habe so eine Analyse drei Stunden gedauert, jeder Fehler sei tausend Mal wiederholt worden, er habe das fast nicht mehr sehen können. »Coach hat recht«, sagt Rochestie. »Wir müssen uns konzentrieren«.
    Aber auf dem Weg aus der Kabine zieht Raduljica Lucca Staiger am Ohr und boxt den hageren Jenkins in die geprellten Rippen, ein 120-Kilo-Knuff. Jenkins krümmt sich vor Schmerzen. »Man, ich habe wegen der Rippe keine zwei Stunden geschlafen«, wimmert er, und Miro lacht: »Get ready for Baynes, man!«
    Femerling ist angespannt. Schon beim ersten Mal in Oldenburg Ende Februar ist er nicht dabei gewesen. Wir hatten in seiner Wilmersdorfer Wohnung gesessen und das Spiel im Fernsehen angesehen, Femerling mit dem rechten Fuß in einer riesigen Plastikschiene. Seit Mitte Januar hatte er Probleme mit den Füßen, aber er biss die Zähne zusammenund trainierte weiter. Am 20. Februar dann plötzlich ein stechender Schmerz: Die Sehne war angerissen. Bei Pistazien und Bier sahen wir den ersten richtigen Sieg der Mannschaft. Femerling feuerte die Mannschaft an, seine Tochter schlief trotz des Lärms weiter. Siebzig Tage war das jetzt her.
    Die Rehabilitationsphase war ungewöhnlich lang. Zunächst wurde das Gelenk fünf Wochen lang komplett immobilisiert. Femerling humpelte täglich zum Krafttraining und verbrachte mehrere Stunden bei verschiedenen Physiotherapeuten. Er fuhr einbeinig Fahrrad, um die Kondition nicht gänzlich zu verlieren. Er sah beim Training zu und saß bei den Spielen neben mir am Spielfeldrand, er haderte lautstark mit den Schiedsrichtern. Manchmal explodierte er. Er hat sein Möglichstes getan, um seinen Körper zu reparieren. Jetzt will er zurück ins Team.
    Femerling betritt die Halle, für alle sichtbar mit getapten Füßen. In der Hand hält er ein Paar der regulären Adidas-Schuhe, die ein Schuster extra für ihn umgerüstet hat. Er wird nicht mit nach Oldenburg fahren, hat der Coach ihm heute Morgen eröffnet, er soll in Berlin bleiben und mit Professor Mika und der zweiten Mannschaft trainieren. »Jugendarbeit«, nennt der Kapitän das. Er lacht, aber ihm ist sichtlich nicht nach Lachen zumute.
    »Coaches müssen alles berücksichtigen«, sagt Coach Bobby und sieht nachdenklich aus. Seit dem ersten Playoff-Spiel ist er noch nervöser als zuvor. Er raucht jetzt mehr, manchmal sogar direkt vor der Halle. Ehe der Bus abfährt, nimmt Bobby seine Schachtel aus einer seiner Taschen und verschwindet hinter dem Bus, damit ihn die Spieler nicht rauchen sehen. Bobby braucht in diesen Tagen für eine Tüte Weingummi nur noch fünf Minuten. »Wir Coaches müssen denken, aber die Spieler müssen nur tun. Als Spieler hast du einen großen Vorteil. Du bewegst dich. Du hast den Ball in den Händen. Du wirfst. Du läufst auf den bekannten Laufwegen. Du setzt einen harten Block. Du handelst nach den Regeln des Spiel und denkst nicht an den ganzen Kram drum herum. Wenn Spieler spielen, sind sie ganz bei sich.«
    Die Spieler tapen sich jetzt bei jedem Training die Knöchel, der Ton wird härter. Coach Katzurin lässt die Spieler ununterbrochen gegeneinander spielen, er will ihren Ehrgeiz wecken. Blau gegen Weiß. DerVerlierer macht Liegestütz. Beim Stand von 9:9 steigt Bryce Taylor beim Kampf um einen Rebound hoch, fliegt über Miro Raduljica, kollidiert dann in der Luft mit McElroy, verlässt die gedachte Flugkurve, dreht sich mit fliegenden Armen unnatürlich um die eigene Achse, schreit dunkel auf und geht zu Boden. Im Getümmel unter dem Korb hat er einen Schlag auf die rechte Schulter bekommen, seinen Wurfarm. Sofort stoppt das Spiel, die Spieler bleiben stehen, der Ball rollt in die Ecke der Halle und bleibt liegen. Alle starren, Jenkins starrt, McElroy starrt, die Coaches starren. Femerling starrt, weil er weiß, was es heißt, verletzt zu sein. Die Frau des Hausmeisters

Weitere Kostenlose Bücher