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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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starrt, obwohl sie keine Ahnung von Basketball hat. Sie sieht die Angst in den Gesichtern der anderen, sie ahnt die möglichen Konsequenzen.
    Coach Bobby zieht die Augenbrauen hoch und sagt: »Die Schulter ist durch. Ich bin mir sicher. We are in deep shit.«
    Bryce bleckt die Zähne und starrt auf den Schmerz im Inneren seiner Schulter. Ein paar Spieler nutzen die Pause und trinken Wasser, der Rest steht um Bryce herum. Der Physio kommt mit Eis, was angesichts der versammelten Befürchtungen völlig nutzlos wirkt. Schließlich hilft Femerling Bryce auf und trägt ihn fast in den Physioraum, ganz Kapitän. Der Coach bricht das Spiel und das Training ohne große Worte ab und schickt die Mannschaft zum Duschen. »Das war’s!«
    Coach Katzurin weiß, dass in den Playoffs vor allem die Spieler gebraucht werden, die der Mannschaft Energie geben. Bryce war im ersten Spiel gegen Oldenburg der beste Verteidiger, er ist in den letzten Wochen vor den Playoffs zu einer Art Symbol für das Wiedererstarken der Mannschaft geworden, für ihr Selbstvertrauen, für die Wiederentdeckung der Spielfreude. In der Kabine vor dem Training hat Coach Katzurin diesen Kampfgeist noch ausdrücklich gelobt. Jetzt steht Bryces Schulter neben Macs Rücken, Jenkins’ Rippe und Femerlings Ferse auf der Liste der Dinge, die Sorgen bereiten. »Diese Dinge können alles verändern. Und man selbst ist machtlos. Also warten wir ab.« Katzurin nimmt seine Jacke vom Haken und geht, er klingt dabei fast ein wenig wie sein Vorgänger. Der Fernseher läuft weiter, die Sendung heißt »Deutschlands bester Apfelkuchen – wer gewinnt den Titel?«.

    Morgens steigt Bryce dann kerngesund in den Bus. »Alles okay«, sagt er, bloß würde sein Arm bisweilen bei einer bestimmten Bewegung taub. Wir fahren raus aus Berlin, Kiefernwälder und Sandboden, Löwenzahn in den Böschungen. »Ich wusste, dass das nichts Ernstes ist«, sagt Bobby, schläft nach zehn Minuten ein und schnarcht. Mithat ist ständig am Telefon mit Marianne Noske in der Geschäftsstelle, sie planen jetzt schon zweigleisig die nächste Playoff-Serie, gegen Frankfurt oder Göttingen. Das Hotel in Frankfurt-Höchst, in der Nähe der Ballsporthalle, ist nach dem Playoff-Aus im letzten Jahr unbewohnbar. Aberglaube. Das Ausweichhotel in Sachsenhausen ist ausgebucht. Hotels für zwanzig Mann sind schwer zu finden. »Bad Homburg?«, fragt Mithat völlig entgeistert in den Telefonhörer. »Wie weit ist das?«

    Die Spieler reden über Angela Merkels Freude an Bin Ladens Tod. Yassin Idbihi hat einen Stapel Tageszeitungen mitgebracht, auf allen ist Bin Laden zu sehen, der vorgestern in Abottabad erschossen und umgehend seebestattet worden ist. »Good day for the war on terror!«, hat Taylor Rochestie getwittert. Yassin ist verwundert: »Nach zehn Jahren finden die Amerikaner den zuckerkranken Bin Laden in einem Haus in Pakistan, und er ist unbewaffnet? Sie erschießen ihn aber trotzdem und werfen ihn dann direkt ins Meer? Ausgerechnet jetzt? Ausgerechnet zum Wahlkampfauftakt?«
    Rapsfelder, Birkenwälder, Bremen, Osnabrück, das Land wird flacher und flacher. Konsti liest Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil, und wirft Zitate in den Bus, »Man muss heuen, wenn das Wetter schön ist,« sagt er. »Der Finger in der Nase dichtet auch.«
    Heiko Schaffartzik blättert fassungslos in den Zeitungen, die Spieler reden über die Talkrunden der letzten Nacht, Markus Lanz und so weiter, die üblichen Gäste, Wolf von Lojewski und Fernsehgarten-Andrea Priewel, die jedes einzelne ihrer Stammtisch-Statements mit einem Wenn-man-mal-ehrlich-ist eingeleitet hat. »Wenn man mal ehrlich ist«, sagt Yassin, »dann stimmt da was nicht.«
    Vor Coach Katzurin liegt eine Tüte Studentenfutter auf dem Tisch, er sieht sich zum wiederholten Male das erste Spiel an. Auf Reisen trägt er schwarzen Trainingsanzug und weißes T-Shirt. Der Anzug für das Spiel hängt hinter ihm am Haken, frisch gebügelt. Katzurin hat seine Haare frisch gefärbt. Ein paar Bilder von vor seinem Engagement in Berlin zeigten einen grauhaarigen Mann, den sie »Sergeant Muli« nennen, und der in seiner langen Karriere in Tschechien, Polen und Israel mit harter Hand Titel einsammelte. Dieser militärische Eindruck ist verflogen, seit er in Berlin angekommen ist.
    Coach Katzurin ist ein reservierter, aber meist höflicher Mann. Seine Haare haben jetzt einen dunkelbraunen, fast violetten Ton. Er sortiert Rosinen und Nüsse, er zeigt Konsti noch einmal

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