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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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Coaches notiert. Don’t be right, be smart! Im dritten Viertel wird das Spiel ruppig, Baynes erwischt Jenkins wieder, aber die Schiedsrichter pfeifen dieses Mal, Foul Nummer vier. Der Centerspieler wird gegen den serbischen Power Forward Oliver Stevi ć ausgetauscht.
    Als Stevi ć kurz vor Ende des dritten Viertels den Ball bekommt, wird er von Heiko Schaffartzik und Yassin Idbihi hart gefoult und geht zu Boden. Die Schiedsrichter pfeifen das harte Foul gegen Idbihi, aber Stevi ć springt auf und geht auf Yassin los. In den Videos wird es später wie ein Faustschlag aussehen, aber der 2,04-Meter-Mann Stevi ć stößt den 2,06-Meter-Mann Idbihi mit angelegtem Unterarm ins Gesicht, gegen den Hals, an die Schulter, so genau ist das nicht zu sehen, und Yassin macht das, was sein Coach ihm geraten hat: Drop dead on the floor! Anstatt zurückzuschlagen, geht Yassin also direkt vor unserer Nase zu Boden. Ein kurzes Handgemenge und eine lange Beratung der Schiedsrichter. Stevi ć wird mit einem unsportlichen Foul bestraft, aber Yassin bekommt ein technisches Foul. Warum, weiß niemand. Vielleicht weil er zu deutlich fiel.
    Die Halle ist ein einziges Gebrüll (»Iddibibbipussyfotze!«, kreischt der Junge hinter uns). Alba führt noch immer mit zehn Punkten, aber jetzt ist es vorbei mit der Ruhe. Es wird nervös, es wird hässlich. Im letzten Viertel lässt das Oldenburger Team nicht nach. Das Gegenteil von Nachlassen: Aus Dreiern von Bogdanovi ć und Lukauskis, aus Mitteldistanztreffern und Fast Breaks baut Oldenburg eine 20:4-Serie zusammen, die Zuschauer wittern ihre Chance, Bogdanovi ć redet schon wieder mit sich selbst, es scheint, als wolle er sich beschwören.
    Alba liegt einen Punkt hinten, 75:74, jetzt braucht es unbedingt einen Korberfolg. Rochestie dribbelt über die Mittellinie, er steht leicht gebückt, er schützt den Ball mit dem Körper gegen Eddie Gill, er sieht über seine Schulter und entdeckt Tadija Dragi ć evi ć . Rochestie passt den Ball dahin, wo Tadija gleich auftauchen wird. Tadija täuscht, dann streift er seinen Gegenspieler an einem harten Block ab, er taucht genau an der Stelle aus dem Getümmel auf, wo Rochesties Pass ihn erwartet. Tadija hat den Ball.

    Tadijas Wurf habe ich zum ersten Mal an einem Augustmorgen im Trainingszentrum gesehen. Tadija war in Berlin gelandet und untersucht worden, 2,06 Meter, 104 Kilo, EKG gut, Blutwerte gut, keine Skelett- und Muskelprobleme. Er war direkt in die Schützenstraße gekommen, um mit Coach Pavi ć evi ć zu sprechen. Tommy hatte ihn eingekleidet. Das Trainingslager stand bevor, Tadija sollte bestmöglich vorbereitet werden.
    Er stammte aus der serbischen Kleinstadt Čačak, die für ihre Basketballer berühmt war, genauer: für ihre Schützen. Seine erste Station war Roter Stern Belgrad. Er wurde der jüngste Kapitän in der Geschichte des Vereins und hatte vor drei Jahren eine so außergewöhnliche Saison gespielt, dass ihn die Utah Jazz verpflichten wollten, aber eine Knieverletzung verhinderte den Transfer. Tadija kämpfte sich zurück und wechselte nach Rom, als die Serben in finanzielle Schwierigkeiten gerieten. So viel hatte ich gelesen.
    Als ich an jenem Augustmorgen die Halle in der Schützenstraße betrat, war das Training bereits in vollem Gang. Die vier Nachwuchssspieler übten mit ihm die Spielzüge ein – Seiferth, Kleiner, Saibou, Ney –, das komplette Playbook. Fünf gegen Null.
    Tadija unterschied sich optisch nicht von den anderen, er war selbst erst 24. Er wirkte nicht außergewöhnlich muskulös oder massig, sprang nicht außergewöhnlich hoch. Anders als bei vielen amerikanischen Spielern war seine physische Stärke nicht sofort sichtbar. »Die Rumpfstärke osteuropäischer Basketballer«, hatte Luka Pavi ć evi ć gesagt. »Basketballer müssen nicht stark aussehen, sie müssen stark sein!« Ich setzte mich auf eine Bank und sah zu. Tadijas Talent war nicht zu übersehen. Seine Bewegungen waren fließend, als würde er seine Kraft und Schnelligkeit gezielt dosieren. Die Nachwuchsspieler wirkten dagegen hektisch, ihre Bewegungen eckig. Wenn Tadija den Ball in Korbnähe bekam und mühelos dunkte, sah man, wie lang seine Arme waren. Bei allem wirkte er überaus koordiniert, seine Arme schienen immer zu wissen, was die Beine taten, jede Bewegung war sinnvoll, sie wirkte sogar ästhetisch überlegt.
    Wenn er den Ball außerhalb der Dreierlinie bekam, griff er ihn im Sprung und seine Füße landeten in der perfekten Position. Meist

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