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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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fing Tadija den Ball einhändig, und für einen winzigen Sekundenbruchteilschien er dann vor ihm in der Luft zu schweben. Die Rechte war seine Wurfhand, er hob den Kopf, die Linke lediglich zur Unterstützung, sein Körper spannte sich und hatte jetzt sämtliche Möglichkeiten. Als Zuschauer konnte man diese Möglichkeiten einen kurzen Moment lang sehen: der Wurf, ein Pass, das Dribbling. Alles war möglich.
    Wenn sein Gegenspieler dicht vor ihm stand, war Tadija mit einem riesigen und mühelos aussehenden Schritt an ihm vorbei. Wenn der Gegenspieler nicht schnell genug war, ging Tadija kaum merklich noch etwas weiter in die Knie, seine Hände drehten den Ball leicht und justierten ihn neu, vielleicht eine Achteldrehung, ein Sechzehntel. Dann streckte er die Knie, er streckte den gesamten Körper in einer einzigen Bewegung von Beinen, Rumpf, Schultern, Ellenbogen, Handgelenk. Der Ball verließ Tadijas Finger am höchstmöglichen Punkt, drehte sich perfekt rückwärts, nahm eine außergewöhnlich hohe und lange Flugkurve, beschrieb einen perfekten Bogen und flog sauber durch das Netz. 12. August 2010, schrieb ich damals in mein erstes Alba-Notizbuch, ein schwarzes Moleskine, Tadija Dragi ć evi ć beim ersten Training beobachtet (vielleicht der talentierteste Basketballer in der Liga).
    Tadija bekommt also den Ball und wirft, aber diesmal trifft er nicht. Oldenburg führt immer noch 75:74. Der Ball springt hoch vom Ring ab und Bryce Taylor fliegt. Bryce Taylor steigt wie vorgestern im Training hoch und höher als alle anderen, er pflückt den Ball gut einen Meter über dem Korb einarmig mit rechts aus der Luft. Und diesmal ist niemand da, mit dem er kollidieren könnte. Bryce landet und sieht, dass er selbst nicht werfen kann. Also passt er. Wieder gelangt der Ball zu Tadija Dragi ć evi ć , wieder wirft er, wieder nimmt der Ball eine ideale Flugbahn, die so nur er beherrscht. Und diesmal trifft er. Er trifft und küsst seine Wurfhand, er zeigt Richtung Bank. 75:77. Auszeit.
    Paulding trifft zwei Freiwürfe. 77:77. Taylor Rochestie dribbelt nach vorne und findet keinen Anspielpartner, also wirft er 4,6 Sekunden vor Ende selbst. Einen frechen Floater mit links über Lukauskis. 77:79. Oldenburg hat sechs Sekunden, wirft ein, aber Paulding dribbelt ins Aus. Dann lässt Taylor Rochestie mit einem Freiwurf und einem Offensivrebound die Luft aus der Halle. 77:80, das war hässlich und knapp. »Arschlochschiriarschloch,« schreit der Junge hinter uns. »Fickdisch.«

    Nach dem Spiel warten die Auswärtsfans vor dem Bus, sie singen und skandieren, McEl, McEl, McEl, McElroy! Die Spieler laufen durch ein Jubelspalier zum Bus, sie kommen sogar noch einmal heraus, um sich bei den mitgereisten Fans zu bedanken. Yassin und Bryce tanzen, hinter dem Bus bezahlt Mithat den Pizzafahrer von Joey’s. Katja von der Beeck sieht glücklich aus.
    Um kurz vor elf ist die Mannschaft wieder im Bus. 2:0, die Serie geht zurück nach Berlin. Man ist sich sicher, am Samstag zu gewinnen. »Der beste Satz bei Arno Geiger«, sagt Konsti und holt sein Buch aus der Tasche. »Ein guter Stolperer fällt nicht.«



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THE PROPER GAME

    BONN, 15. OKTOBER 2010
    DAS ERSTE BUNDESLIGASPIEL DER SAISON. Die Stadt war Bonn, das Hotel war das Bristol Günnewig und die Hotelbar war geschlossen. Wir liehen uns Regenschirme und liefen durch den Herbst: Luka Pavi ć evi ć , Professor Mika und ich. Wir fanden ein Weinlokal, Giacomo, Professor Mika war für Grauburgunder, ich für Barbaresco. Wir hatten Glück: Der Wein war gut. Pavi ć evi ć liebte hervorragenden Wein, und Mika musste aussuchen. Wir versuchten zunächst eine Unterhaltung zu dritt, aber dann übernahm der Coach. Ich hörte zu, Mika trank seinen Grauburgunder (man hat ständig das Gefühl, dass Professor Mika alles versteht, was gesagt wird, dass er seine Sprachlosigkeit nur behauptet).
    Wir sprachen über Stephen King und John le Carré, über Horror und Spannung und Spionage, wir sprachen über den Mossad und das FBI und Militärindustrie. Wir sprachen über korrupte Politiker, Autofahren in Amerika und unübersichtliche Vorfahrtsregelungen. »In Amerika fahre ich einfach in Balkan-Manier über jede Kreuzung, die Amerikaner warten und lächeln, und während sie lächeln, bin ich längst hinter der nächsten Ecke verschwunden.«
    Wir redeten über Bonn und die dunkle und steile Arena der Bonner, schwarz und magenta, das Publikum eng am Geschehen. Bonn war ein »gutes Basketballumfeld, ohne

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