Gentlemen, wir leben am Abgrund
ć evi ć zu mir herübergekommen. Die Hallenregie testete die Präsentation der Spieler, ihre Namen und Nummern hallten durch die Halle. Riesige Abbilder ihrer Augen flackerten jetzt auf den Displays unter dem Oberrang der Halle, wie Dr. T. J. Eckleburg im Great Gatsby. Im Gedröhn hatte der Coach mir plötzlich seine Sicht der Dinge zusammengefasst: »Schreib mit! Es gibt zwei Arten von Basketballern. Die, die in die Halle kommen und sehen, was passiert. Und die, die wissen, was passieren wird. Weil sie vorbereitet sind. Die Vorbereitung war kurz. Zum jetzigen Zeitpunkt können nur vier Spieler unser Spiel im Schlaf wiederholen. Staiger? Er hat noch nicht die gedanklichen Kapazitäten, aber das kommt noch. Idbihi? You can’t teach an old dog new tricks. Marinovi ć ? Sehr ehrgeizig, er will unbedingt, aber er kann nicht. Femerling? Best player on this team! Femerling, Jenkins und McElroy sind Spieler, die mit Informationen arbeiten können. Sechzig Spiele im Jahr, jedes Mal zehn neue Spielzüge oder Varianten, das sind 600 neue Ideen. Das kann sich nicht jeder merken.« Ebenso plötzlich, wie er begonnen hatte, brach der Coach wieder ab. »Ich muss wissen, was passieren wird. Hast du das aufgeschrieben? Most important game of the season.«
Der Psychologe hatte Luka gelobt. Er würde von seinen alten Mustern abweichen, habe eine große Rotation gespielt und auch die jungen Spieler eingesetzt. Er habe mit jedem Spieler konstruktiv kommuniziert. Alba wendete das Ausscheiden ab und gewann das Spiel, 95:82, aber verlor Sven Schultze mit einer Oberschenkelverletzung. In der zweiten Runde gewann man zu Hause gegen die serbische Mannschaft Hemofarm Vrsac mit ihrem kantschädeligen Supertalent Milan Maˇcvan knapp mit 75:67 und lag im Rückspiel in Serbien Sekunden vor Schluss noch mit acht Punkten hinten. Das wäre das Aus gewesen, aber Julius Jenkins bekam den Ball und nahm mit der Schlusssirene einen Dreier. Ich hatte das Spiel gemeinsam mit einer ganzen Menge Alba-Fans in einer Kneipean der Karl-Marx-Allee gesehen, serbisches Satellitenfernsehen und ostdeutsches Bier, blau-gelbe Schals und Tommy-Thorwarth-Trikots. Der Dreier fiel, 78:73, Alba gewann den direkten Vergleich mit einem Punkt. Ich war überrascht, wie sehr ich mich über diese Niederlage und das Weiterkommen freute. Mein Tresennachbar hatte uns euphorisch drei Korn bestellt: »Für jede Runde einen. Prost!«
In der dritten Runde hatte man nicht nach Kazan reisen müssen, sondern zu Spirou Charleroi in die laut der Zeitung De Volkskrant »hässlichste Stadt der Welt«. Das Maskottchen der Belgier war die Comicfigur Spirou. Alba verlor knapp mit 81:77 und musste Charleroi nun in Berlin mit mindestens fünf Punkten schlagen. Das schien möglich, man hatte in der verrauchten belgischen Halle nicht gut gespielt. In Berlin würde es besser werden.
An einem strahlenden Herbstnachmittag hatte es also tatsächlich ein Finale um den Einzug in die Euroleague gegeben. Ein Endspiel um das sportliche, finanzielle, emotionale und teamdynamische Weiterkommen. Das nächste wichtigste Spiel der Saison.
Dejan Mijatovi ć war vorher mit stressinduzierten Herzproblemen zurück nach Belgrad geflogen, aber niemand sprach darüber. Konsti übernahm als Co-Trainer. Vor dem Spiel war er zum Friseur gegangen und hatte mit neuem Haarschnitt dem Publikum die Regeln des Tages erklärt. »Heute ist kein Nachmittag für Gastfreundschaft«, hatte er im Interview gesagt. »Heute ist kein Nachmittag, um sich zurückzulehnen und zuzusehen, was passiert. Heute ist ein Nachmittag für Attacke.«
Luka Pavi ć evi ć zog sich schon vor dem Warm-Up die Anzugjacke aus und rollte die Ärmel auf. Ich saß auf der Tribüne und beobachtete Marco Baldi, der neben Sven Schultze am Spielfeldrand saß. Er sah angespannt aus. Es war ein zerfahrenes und ständig knappes Spiel. Von Jenkins sah man nicht viel. Staiger und Taylor spielten nicht viel. Charleroi führte in der zweiten Hälfte ständig, aber Alba hielt den Anschluss. Derrick Allen erzielte 20 Punkte, holte acht Rebounds, und kurz vor Ende wechselte die Führung, 70:68 für Berlin.
Aus der Distanz der Tribüne war ich zweifelsfrei davon überzeugt, dass das Spiel für Berlin gut ausgehen würde, Maccabi Tel Aviv, dachte ich, ich stellte mir vor, mit Partizan Belgrad zu spielen. Dann aber trafder Aufbauspieler der Belgier, Demont Mallet, zwei entscheidende Freiwürfe. 70:70. Es waren seine einzigen Punkte. Das Unentschieden hatte als
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