Gentlemen, wir leben am Abgrund
die über das aktuelle Spiel hinausweist. Taktik langweilt im täglichen Kurzartikel, Spielstände und Ergebnisse sind bereits am übernächsten Tag vergessen. Es geht um die antiken Darstellungsformen: Tragödie und Komödie, Jubel, Gelächter, Freudentränen, Melodramen, Metaphern, Aufstiegsgeschichten und Abstürze. Große Siege. Großes Scheitern. Die Journalisten sind erleichtert, dass die reguläre Saison jetzt vorbei ist, dass es jetzt wieder um etwas geht. Lukas Entlassung liegt bereits drei Monate zurück, Alba hat sich stabilisiert, und jetzt geht es um messbaren Erfolg oder endgültiges Scheitern (beides wäre eine gute Geschichte). Sofort sind doppelt so viele Journalisten beim Training, ein paar werden sogar mit nach Oldenburg fahren. Im Pressetraining sammelten sich die Schreiber und Reporter also um Yassin, aber vor den Mikrofonen, Diktiergeräten und Kameras sagt der Center dann wohlüberlegt, was gesagt werden darf. Adrenalin in der Kabine, Diplomatie für Journalisten. »In so einer Situation musst du ruhig bleiben«, sagte er grinsend. »Da muss man sich raushalten. Sonst schadet man dem Team.«
Nachdem die Journalisten die Halle verlassen hatten, kam Patrick Femerling mit seiner Tochter Mia in die Halle und wartete auf die tägliche Physiotherapie für seine Achillessehne. Heute Morgen hatte er bereits gearbeitet, Kraft- und Ausdauertraining. Seit seiner Verletzung waren mittlerweile fast drei Monate vergangen, aber Femerling hatte sein Programm durchgezogen. Er war wochenlang auf Krücken und mit dem monströsen Protective Boot herumgelaufen. Es gab unzählige Magnetresonanzbilder und Prognosen, er hatte Schleichers Spritzenkuren über sich ergehen lassen. Er hatte das Bein gedehnt, elektrotherapiert, stundenlang in Schlingen gehängt. Man hatte wochenlang die Schmerzgrenze in seinem verletzten Gelenk getestet und immer weiter nach oben verschoben. Er hatte seinen Porsche gegen das Fahrrad getauscht und war durch einen verregneten Frühling gefahren. Er hatte zwei Wochen lang mit den Nachwuchsmannschaften trainiert. Er hatte sich gezeigt. Jetzt hatten die Playoffs begonnen, jetzt wurde die Zeit knapp und Femerling langsam ungeduldig. Femerling ist ein Veteran der Schmerzen, er kennt seinen Körper und dessen Toleranz für Acetylsalicylsäure, Paracetamol, Voltaren, Diclofenac und Ibuprofen. Er kennt seinen Magen. Monatelang hat er keine Schmerzmittel mehr geschluckt, um genau zu merken, wann er wieder fit sei. Und jetzt war er fit.
Femerling sah seiner Tochter zu, die mit einem Ball durch die leere Halle tobte. Neben ihm saß Bryce, die Füße in einer blauen Spülschüssel mit Eiswasser, Eispakete auf den Knien und der rechten Wurfhand. Mia trat vor den Basketball, rannte dem Ball hinterher, warf ihn Richtung Korb, kreischte. Bryce kühlte seine Knochen, und Femerling lobte stolz Mias knallharten Schuss, ihren Bewegungsdrang, ihre Schmerzunempfindlichkeit, ihre Lernfähigkeit. »Sie fährt Ski und Fahrrad und bindet sich die Schleife selbst.« Mia lief noch ein paarmal hin und her, dann kam sie keuchend zu ihrem Vater und Bryce.
»Warum tut der Mann seine Füße in das Wasser?«
»Damit die Knochen nach dem Training nicht so wehtun.«
»Soll ich das auch machen? Mir tut der Fuß auch weh.«
»Das müssen nur wir alten Männer machen.«
Mia überlegte eine Sekunde, sie legte nachdenklich ihren Zeigefinger an die Lippen. Plötzlich ging ihr ein Licht auf.
»Du bist doch kein alter Mann, Papa!«
Femerling lachte. Das war die Diagnose, die er hören wollte.
Beim Spiel sitzt Femerling unter dem Korb. Er sieht zu und man sieht, dass ihm das Zusehen zusetzt. Mia trägt neonpinke Kopfhörer gegen die Trommler im Fanblock hinter uns, sie lässt eine Barbie über die Bande flanieren.
Coach Katzurin hat in der Kabine noch einmal betont, dass man dieses Spiel und die Serie nur über die Verteidigung gewinnen kann, die Meisterschaft sowieso. Für Oldenburg und für ihren Trainer Kruni ć geht es ums nackte Überleben. Verlieren sie, sind sie raus. Das erste Viertel muss Femerling besonders schmerzen, denke ich, denn beide Mannschaften attackieren über die großen Spieler. Miro Raduljica und Aron Baynes punkten im Wechsel. Alba trifft gut und führt, die Halle ist laut, aber gegen Ende des ersten Viertels leistet sich die Mannschaft einige Unkonzentriertheiten, die im ersten Spiel undenkbar gewesen wären. Ballverluste. Nachlässige Pässe. Vergebene Korbleger von Derrick Allen. Oldenburg wirft
Weitere Kostenlose Bücher