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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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Lobby des Hotels um eine winzige, pinke Tischtennisplatte herum. Wir warteten auf den Coach und die letzte Besprechung vor dem Spiel gegen Phoenix Hagen. Es gab Toast und Kaffee wie immer. Im Fernseher lief die Wiederholung eines Fußballspiels, Borussia Dortmund gegen Sevilla, kein gutes Omen.
    Die Spieler sahen zu, wie Mithat, der Sportdirektor, und Baldi, der Manager, erst locker und dann immer konzentrierter mit den viel zu kleinen Schlägern auf der viel zu kleinen Platte Tischtennis spielten. »Das sagt einiges über unser Leben«, sagte Femerling. »Wenn eine zu klein geratene rosa Tischtennisplatte der Höhepunkt unseres Tages ist, und alle um das Scheißteil herumstehen wie ein Stamm um sein Lagerfeuer.«
    Baldi spielte gegen Demirel, beide wollten nicht nachgeben, beide spielten ihr Spiel, so gut es auf der winzigen Platte eben ging. Ich hatte den Eindruck, dass die beiden etwas Entscheidendes besprachen (sie führten eine wortlose Diskussion). Lange Bälle mit Unterschnitt waren auf der kleinen Platte schwierig, Schmetterbälle waren sichere Winner, also spielten die beiden auf Angriff.

    »Gentlemen, we’re living on the edge«, sagte Luka Pavi ć evi ć in der Goldberg-Suite des Mercure Hotels Hagen. »Das Leben am Abgrund schärft die Sinne und bringt unseren wahren Charakter hervor.« Er sprach wieder von Konzentration und Selbstschutz und den Konsequenzen jeder Spielsekunde, den Konsequenzen jeder einzelnen Entscheidung. Für das Spiel, für die Saison und für die gemeinsamen Karrieren. Der Coach sprach laut und deutlich, aber ich konnte mich nicht richtig auf seine Rede konzentrieren. Ich trieb ab. Während die Hagener Spieler auf dem Bildschirm wieder und wieder ihre Spielzüge liefen, während der Coach den schnellen und wilden Basketball von Phoenix analysierte, sah ich aus dem Fenster in den Nieselregen.
    »Diese Mannschaft hat keine Verteidigung«, erklärte der Coach. »Ihre Verteidigung ist Angriff.«
    Ich sah über die Stadt. Hagen war nach all den Jahren immer noch meine Stadt, Hagen war mein Verein, 1974 als SSV Hagen sogar ein einziges Mal Deutscher Meister. Ich kannte die Spieler von damals, obwohl ich 1974 noch gar nicht geboren war. Ich kannte die Geschichten, ich kannte die Legenden. Jimmy Wilkins, die Pollex-Brüder, Krüsmann, Schmunz. Ich konnte mich an den Centerspieler Schaumann erinnern, den Trinker, der lang und hager durch unsere Straßen am Kuhlerkamp lief. Bei der Meisterfeier hatte er ein Aquarium voll Bier ausgetrunken, fünf Liter in einem Zug, danach hatte er vom Balkon gekotzt.
    Ich hatte meine Kindheit mit Basketball zugebracht, von einer Profikarriere geträumt und trainiert. Ich hatte auf den Stehplätzen der Ischelandhalle gestanden und gebrüllt.
    Hagen hatte jahrelang sogar zwei Bundesligavereine gehabt: TSV Hagen! SSV Hagen! Die Spieler hießen Ralf »Kees« Kuhtz, Keith Gray, Sylvester »Sly« Kincheon, Martin Schimke, Andreas Klippert, Eric Pröscher, Shorty Hillebrand, Ralf »X« Risse, und wahrscheinlich bin ich der Einzige, der sich noch an den seltsamen Wurf des Südafrikaners Robert von Amelunxen erinnert, von weit hinter dem Nacken, himmelhoch in der Luft, perfekt rotierend. In meinem Leben hatte ich mir ein einziges Autogramm geholt, von »Centi« Thomas, dem Centerspieler des TSV Hagen 1860 (die einzige andere Person, von der ich mir ein Autogramm holen würde, wäre John Irving).

    Heute Abend würde Alba Berlin in der Ischelandhalle spielen. 1994 hatte der Verein Brandt Hagen geheißen, nach der Zwiebackfabrik, und war noch einmal Pokalsieger geworden.
    Ich hatte manchmal mittrainiert, ich hatte über Basketball die Schule vergessen. Ich erinnerte mich an Keith Gatlin, Oliver Herkelmann. Adam Fiedler, Arnd Neuhaus und die Feldscher-Brüder. Ich starrte aus dem Fenster auf das Rathaus, die Nacht, die Lichter. Mir fiel mein altes Fahrrad ein, blau, Marke Minerva. Ich dachte an die steilen Berge nach den fürchterlichen Trainingseinheiten. Ich dachte an den Fleyer Wald und die letzten Meter der großen Runde. Wir hatten unsere Sommer auf dem Freiplatz Emst verbracht, ich erinnerte mich auch an die Namen dieser Sommer. Frank Heemsoth, der sich das Knie zerfetzte. Thomas Janiszewski, der einen amerikanischen Führerschein hatte und uns fuhr. Jens Pfeifers O-Beine und seine miese Linke, Gordon Debus’ flatternder Dreier. Pit Kapetanovic, der nach dem Duschen immer zuerst sein Unterhemd anzog. Sven Hammacher konnte Spagat und hatte Reebok Pumps. Schädel

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