Gentlemen, wir leben am Abgrund
Gieseck, der in Leverkusen Profi wurde. Sein Bruder Robin, den wir Balu nannten. Storch Kruel mit seinen überlangen Beinen und viel zu kurzen Hosen. Marko Peši ć beim Bierdosenschießen hinter der Halle.
Wenn wir nicht spielten, lagen wir auf dem Beton in der Sonne und teilten uns Malzbier. Wir hörten The Pogues und Beastie Boys. Ich erinnere mich an die Risse im Asphalt. Die Mädchen, über die wir damals sprachen, waren allesamt Basketballspielerinnen. Die langen, blonden Haare von Marta Lewandowski. Tanja Trapp, die Tochter des Hagener Meistertrainers Yogi Trapp. Sandra Steinhoff. Kirsten Scheele. Ich erinnerte mich an den langsamen Abstieg des Vereins und den endgültigen Bankrott. Die Zwiebackfabrik produzierte jetzt irgendwo im Osten. Ich hatte Hagen verlassen und war nach Hamburg gegangen. Vom Neuanfang der Basketballer hatte ich nur in der Zeitung gelesen. Jetzt hieß der Verein Phoenix Hagen und war seit einem Jahr zurück in der ersten Liga. Die Spieler hießen Bell, Burtschi und Dorris. Ich hatte sie noch nie spielen sehen.
Hagen lag dunkel vor dem Fenster. In der Goldberg-Suite redete Luka Pavi ć evi ć immer noch. »Wir werden die totale Kontrolle über dieses Spiel übernehmen«, sagte er. Ich saß im Mercure Hotel Hagen, ehemals Queens, sieben Stockwerke über dem Festsaal, und Patrick Femerlingneben mir kaute Kaugummi. »Let’s go«, sagte der Coach, und die Mannschaft stand auf, um die Kontrolle zu übernehmen.
Der Bus fuhr durch die bekannten Straßen. Die Spieler hörten Musik, und ich versuchte Konsti diese Stadt zu erklären, in der ich aufgewachsen war. Der Felsengarten. Das Wasserlose Tal. Hier die Volme, dahinter links der neue Kinokomplex, der fast alle anderen Kinos ausradiert hatte. In Hagen gab es nur noch Pornokinos und Mainstream. Waffen Becher links. Die Remberghalle über uns leuchtete, als wir vorbeifuhren, sie hieß jetzt Öwen-Witt-Halle. Hier das Landgericht, ganz oben die Kantine mit ihren unfassbar fettigen Pommes.
»Das Zentrum«, sagte ich, »sieht aus wie jedes Stadtzentrum in Westdeutschland.« Wir fuhren in der Dunkelheit an einem leeren Schotterparkplatz vorbei. »Hier der Kirmesplatz Höing«, sagte ich mit Reiseleiterstimme und erzählte von Riesenrädern und Wellenreitern und Ponygeruch und von dem Tag, als mir einer der Jeansjackentürken am Autoscooter fast mein linkes Ohr abgerissen hatte.
Unter uns in der Dunkelheit lag der Ischelandteich, um den wir damals rennen mussten, ich konnte sein Brackwasser riechen, die Modellschifflenker am Ufer und ihre Käsebrote. Die Enten. »Nicht so einfach für dich, oder?«, lachte Konsti. »Für wen bist du eigentlich heute Abend?«
Der Bus hielt an der Ischelandhalle. Mittlerweile regnete es heftiger. Die Mannschaft rannte ohne Regenschirme den Weg hinauf zur Halle. Am Spielereingang stand der Hausmeister, der uns früher nach dem Training Malzbier verkauft hatte, und hielt uns die Tür auf. Tommy schleppte das Equipment durch den Regen, die Spieler versenkten sich in ihre Rituale. Ich spazierte durch meine alte Halle, die mittlerweile auf Ligastandard gebracht worden war. Sie war immer noch eine Baustelle. Der Kabinentrakt sah genauso aus wie früher – graues Linoleum und gestrichener Beton. Die leere Ischelandhalle lag vor mir, das Grau und Rot der Tribünen, das Blau der Wände. Alles wie damals. Man hatte neues Parkett verlegt und hinter den Mannschaftsbänken eine zusätzliche Tribüne eingebaut, aber die Zuschauer saßen immer noch direkt am Spielfeldrand. Die Werbetafeln der unzähligen Kleinsponsoren der Mannschaft hingen jetzt an den Säulen und Aufgängen.
Phoenix Hagen hatte die letzte Bundesligasaison in einer notdürftig umgebauten Fabrikhalle bestritten, jetzt war die Ischelandhalle fertig und fasste 3300 Zuschauer. Vor wenigen Wochen hatte man die Namensrechte an einen örtlichen Energieversorger verkauft. Diese Halle hatte große Spiele und große Spieler gesehen, Rimas Kurtinaitis, Arvidas Sabonis, Dražen Petrovi ć . Ich hatte hier gejubelt und gelitten, ich hatte in dieser Halle die Schönheit des Spiels verstanden. Mein eigener Traum vom Basketball lag im Foyer begraben. Ein paar vertraute Gesichter gab es noch, fünfzehn Jahre älter, aber sie waren immer noch da. In Hagen bauten freiwillige Helfer die Bandenwerbung auf und schleppten Stühle.
Geld war in Hagen knapp, der Etat für Spieler lag etwa bei einem Achtel der Berliner Mannschaft. Heute kam Alba Berlin, und Spiele gegen Alba sind
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