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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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sie weniger Spiele hatten. Teams, die auf Kampfgeist und auf etwas Glück vertrauten. Die es drauf ankommen lassen konnten. Luka Pavi ć evi ć liebte die Kalkulation, und Spiele gegen Hagen waren unkalkulierbar. Gegen Hagen konnte Berlin nur verlieren.
    Pavi ć evi ć hatte nichts gegen Hagen. Er hatte nichts gegen die kleinen Clubs der Liga, aber der ständige und hoch motivierte Kampf der Kleinen gegen die Großen erschwerte seine Arbeit. Für Luka Pavi ć evi ć war die Liga mit 18 Mannschaften zu groß. Eine Liga mit 18 Mannschaften bedeutete 17 Auswärtsspiele für jede Mannschaft. Dazu kamen der Pokal, der internationale Wettbewerb und die Playoffs. Ein Auswärtsspiel bedeutete einen Tag Anreise, den Spieltag und einen Tag Abreise. In einer guten Saison spielte Alba Berlin fast 70 Spiele, davon die Hälfte in fremden Hallen. Zwischenfälle wie unsere Rückreise aus Caserta nicht mitgerechnet. Die kleineren Teams aus der unteren Tabellenhälfte spielten nur halb so oft und waren dann ausgeruhter und hoch motiviert. Eine kleinere Liga, so Pavi ć evi ć s Argument, wäre eine stärkere Liga. Das Niveau wäre höher, die Spiele wichtiger. Vier Auswärtsfahrten weniger im Jahr hießen zwölf Nächte weniger in Hotels. Zwölf Nächte weniger unterwegs bedeuteten effektiv zwei Trainingswochen. Weniger getrennte Familien. Die eigenen Betten. Besseres Essen, bessere medizinische Versorgung. Der schmalere Spielplan ließe Raum für gründlicheres Training und Kraft für die europäischen Wettbewerbe.
    Der deutsche Basketball schwäche sich selbst, fand der Coach. Er tausche die schöne Geschichte vom widerständigen Dorf gegen internationalen Erfolg und internationales Standing. Der deutsche Basketball müsse sich schützen. Pavi ć evi ć wollte immer gewinnen und er wollte so gut sein, um die Siege garantieren zu können.

    Als das Spiel begann, war ich hin- und hergerissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Wehmut und Projekt, zwischen Hagen und Berlin. Ich saß am Spielfeldrand in meiner alten Halle, die jetzt Enervie Arena hieß, und erinnerte mich an all die Trainingseinheiten. An all die Schreie und Pfiffe, an das Quietschen der Turnschuhe beim Training, an das Malzbier. Als Phoenix einlief, explodierte die Stimmung. Die Hagener arbeiteten mit dem Publikum. Der ehemalige Navysoldat Jacob Burtschi salutierte den Stehplätzen. Den Berlinern schlug die zusätzliche Motivation entgegen, der sie ständig gegenüberstanden. In den Augen der Hagener Spieler war heute eine Dringlichkeit und Konzentration zu sehen, die den Berlinern fehlte.
    Das Spiel war eng. »Du kannst nur verlieren«, hatte Bobby gesagt. »Du kannst nur gewinnen«, sagte Konsti. Ich entschied, dass mir der Ausgang egal sein würde. Ich sah meinen Vater oben auf der Tribüne und erinnerte mich an unser erstes gemeinsames Spiel, 1985. Ich war zehn Jahre alt und verblüfft, dass Menschen so hoch springen und Trommeln so laut schlagen konnten.
    Ich sah dort oben den zehnjährigen linkischen Jungen, der ich war. Er stand zwischen 2499 anderen brüllenden Menschen und sah einem Basketballspiel zu. Der die Regeln des Spiels gerade erst lernte, der selbst noch mit dem kleinen Ball spielte (Spielklasse D-Jugend). Ich sah den Jungen mit elf, zwölf, dreizehn Jahren, immer linkischer, immer ein wenig größer, rausnehmbare Zahnspange, Sweatshirts in fürchterlichen Pastellfarben am Leib (die Erinnerung an diese Zeit hat fürchterliche Pastellfarben).
    Ich erinnerte mich daran, dass in Hagen der TSV der Underdog war, der SSV Hagen war der Geldsack, mit Kontakten, Sponsoren, mit zwielichtigen Gestalten im Präsidium. Jedes Jahr kam es zweimal zum Derby, bis aufs Blut. Dann war die Halle übervoll, überlaut und überhitzt. Hier sah ich meine ersten Betrunkenen, meine erste Schlägerei und sogar meinen ersten Sex (das hatte ich fast vergessen, es war in einem Lagerraum und ich gerade auf dem Weg zum Klo, da lagen zwei auf einer blauen Gymnastikmatte, ich habe da vielleicht eine Minute gestanden, bis der gar nicht so junge Herr mich bemerkte und ich völlig überstürzt zurück auf die Tribüne rannte). Die Welt war der Ball, die Halle war das All.

    Jetzt sah ich dem Berliner Trainer Luka Pavi ć evi ć bei der Arbeit zu, er hatte seine Anzugjacke ausgezogen und gestikulierte. Die Mannschaft startete gut in das Spiel, Derrick Allen machte elf Punkte in Serie. Die Halle schüttelte ihre Köpfe, beim 11:4 deutete sich eine schlimme Niederlage an. Aber

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