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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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Russland zu ersparen. Sportlich war das Spiel bedeutungslos, aber jetzt stand die Integrität der Mannschaft zur Debatte. Die Visa allerdings waren längst bestellt. Die Hälfte der Mannschaft blieb also erleichtert in Berlin, die anderen Spieler wuschen ihre Socken und fuhren dann schlecht gelaunt über Moskau an die Wolga. Pavi ć evi ć musste improvisieren. Marinovi ć machte ein gutes Spiel, Staiger bekam Spielzeit und nutzte sie, Bryce Taylor punktete und Andy Seiferth lieferte gegen die Millionäre aus Samara gute Minuten ab. Die Mannschaft gewann knapp mit 68:72. Das Spiel hätte vielleicht ein Lichtblick oder Hoffnungsschimmer sein können, wenn jemand Notiz davon genommen hätte.
    Auch an Weihnachten bekam die Mannschaft keine Pause, sie spielte und gewann gegen Bremerhaven, drei Tage später schlug man Göttingen. »Wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte Luka Pavi ć evi ć in der Pressekonferenz. In Tübingen verlor man dann aber unverhofft, und sofort verschlechterte sich die Stimmung wieder. Die Vereinsführung war zurück in Berlin. Man präsentierte Heiko Schaffartzik als Neuzugang. Coach Pavi ć evi ć hatte ihn schon vor der Saison verpflichten wollen, sein Name hatte auf dem Flipchart im Trainerbüro gestanden. Damals war die Verpflichtung im Hamann-Durcheinander gescheitert. Jetzt war der Coach nicht mehr so begeistert. Als Lösung des Aufbauspielerproblems sah er Schaffartzik nicht. »Schaffartzik hilft uns, wenn wir uns gemeinsam vorbereiten«, hatte er gesagt. »Wir werden Zeit brauchen, aber wir haben diese Zeit nicht.« Er hatte dabei bitter ausgesehen. »Wie stellen die sich das vor? ›Gentlemen, das ist Heiko. Wir wissen zwar nicht, was wir mit ihm anfangen sollen, aber hier ist er. Let’s have a good practice, let’s go?‹ Soll das so laufen?« Man gewann back-to-back Hin- und Rückspiel gegen den Mitteldeutschen Basketball Club, Schaffartzik spielte dabei ganze 41 Sekunden. Dann fuhr das Team nach Hagen.
    Die Mannschaft wohnte im Mercure Hotel, ich wohnte bei meinen Eltern. Schon in der Auffahrt zum Hotel packte mich Wehmut. Im Steinbruch hinter dem Parkplatz hatte ich meine ersten Biere mit Freunden getrunken, im Speisesaal mein Abiturzeugnis erhalten. Das Mercure Hotel hatte noch Queens-Hotel geheißen und war das erste Haus am Platz gewesen, zumindest dachten wir das im Sommer 1995. Ich hatte einen Anzug meines Vaters getragen, im Beige der frühen Neunziger. Mein Schuldirektor hieß Kocher mit Nachnamen. Sein Vorname war in meiner Erinnerung nicht auffindbar.
    In der Stadthalle nebenan war in den Achtzigern einmal Wetten dass ..? zu Gast gewesen, damals hatte es noch Eiermänner gegeben. Jeden Freitag klingelte es an der Tür und ein Mann namens Beckmann stand mit einer Wochenlieferung Hühnereier vor der Tür. Unser Eiermann hatte bei Frank Elstner oder Thomas Gottschalk eine Wette verloren. Er wollte sämtliche Taxis Nordrhein-Westfalens am Piepen ihrer Funkgeräte erkennen, aber er erkannte kein einziges.
    Das fiel mir ein, als ich mit Konsti in der Auffahrt stand. Jetzt wurden auf dem Billboard vor der Halle in gelblich-moosigen Buchstaben Mineralienbörsen angekündigt, ramponierte Schlagersänger und Ü-35-Partys.
    Die Mannschaft checkte ein. Von den Zimmern konnte man überdie Stadt sehen, rechts der Kratzkopf mit dem Hagener Rotlichtviertel, links der Schornstein einer stillgelegten Fabrik, in der Entfernung die bewaldeten Hügel im Nieselregen. Zum Mittagessen gab es Sauerbraten und westfälische Wurstspezialitäten.
    Der Coach ging ungewöhnlich schnell auf sein Zimmer, um sich vorzubereiten. Marco Baldi stand auf Socken im Gang des Hotels und entschuldigte sich, er müsse heute Nachmittag arbeiten, ein Thesenpapier, das die Zukunftspläne für Alba Berlin in der O2 World formulieren würde. Er wirkte wortkarg, es lagen Veränderungen in der Luft. Ich saß eine Weile mit Mithat Demirel in seinem Zimmer, wir sahen aus dem Fenster direkt auf Blumen Mankopf im Wasserlosen Tal. »Steht irgendetwas Besonderes an?«, fragte ich, weil ich den Eindruck hatte, dass Entscheidungen gefällt werden würden. Aber Mithat wich aus. »Nö«, sagte er, »nö.«
    »Wirklich nicht? Wirkt so«, sagte ich. »Es wirkt so, als würdet ihr Pläne schmieden.«
    »Hagen«, sagte Mithat auf seine unnachahmlich uneigentliche Art und nickte aus dem Fenster, »Hagen ist ne richtig schöne Stadt.«
    Die blaue Stunde vor dem Spiel. Die Raben über dem Steinbruch krächzten. Die Mannschaft stand in der

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