Gentlemen, wir leben am Abgrund
Quakenbrück. Nicht gegen Ludwigsburg. Ums Verrecken nicht gegen Ludwigsburg.
Das Fernsehen war da, ein paar überregionale Tageszeitungen und Magazine, sogar zwei Berliner Journalisten waren mitgereist. Es ging um das Bild, das Alba Berlin abgeben würde. Es ging um den Ruf. Es ging um den Tonfall, in dem wir über diese Saison sprechen und schreiben würden.
Die Halle war voll und laut, ich saß neben Dirk Nowitzkis Trainer und Berater Holger Geschwindner. Geschwindner trug eine bunte Filzmütze, ein weiser Hofnarr des Basketballs, der die Wahrheit sieht und aussprechen darf.
Das Spiel begann, Julius Jenkins traf den ersten Dreier. Und dann fiel alles auseinander. Das Spiel glitt dem Coach und seiner Mannschaft aus der Hand, teures Geschirr, dessen kurzem Fall wir wie in Zeitlupe zusahen. Wir konnten es nicht mehr auffangen. Für einen winzigen Moment blieb mitten im Fall die Zeit stehen, wir begriffen, dass das Spiel nicht mehr zu gewinnen sein würde. Das Spiel war ein kurzer Moment der absoluten Machtlosigkeit. Jenkins traf den ersten Dreier, dann war es vorbei, als hätte jemand vorgespult. Das Spiel war nicht nur gebrochen, es war irreparabel zersplittert, es war kaputt, schlichtweg kaputt. Plötzlich stand der Bamberger Nachwuchsspieler Philipp Neumann auf dem Feld und erzielte seine allerersten Bundesligapunkte. Neumann war eine menschliche Schaumweinflasche, die vom Bamberger Trainer in dieser Saison nur aus dem Keller geholt wurde, wenn es etwas zu feiern gab. Ehe wir uns versahen, hörten wir die Sirene, dann wurde um uns herum gefeiert. Der Bamberger Jubel spülte die Mannschaft aus der Halle, sie hatte die höchste Niederlagein der Berliner Vereinsgeschichte erlitten. Über uns stand 52:103 an der Anzeigetafel.
»Der Coach hat die Mannschaft alleingelassen«, sagte Holger Geschwindner ins Dröhnen der Bamberger Vereinsschlager. »In so einer Situation sagst du deinen Spielern, sie sollen den Ball unter dem Trikot verstecken und die Uhr herunterlaufen lassen. Du rettest ihre Psyche. Du machst harte Fouls zur Bewahrung der Integrität. Wenn du merkst, dass du nicht gewinnen kannst, ergreifst du Maßnahmen, um nicht so zu verlieren.«
Die Rückfahrt war eine Katastrophe. Die Luft im Bus war eiskalt, die Stimmung leicht entzündlich. Von der Halleneuphorie blieb ein widerliches Pfeifen in den Ohren. Zum ersten Mal, seit ich mit der Mannschaft unterwegs war, hatte ich das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen. Hatte der Coach wirklich die Spieler im Stich gelassen oder war es umgekehrt? Mir fehlten die passenden Worte, also sagte ich nichts und notierte die ersten feinen Risse im Verhältnis von Management und Coach Pavi ć evi ć .
Jeder hat seine eigene Art, mit Niederlagen umzugehen: Femerling stieg wetternd in den Bus, Jenkins setzte sich schweigend auf die Rückbank. Fieberhafte Grübelei. Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Sarkasmus. Die Behauptung, es bereits vorher gewusst zu haben.
Im Schneetreiben vor dem Bus standen neun verloren wirkende Auswärtsfans und winkten tapfer, als wir abfuhren. Der Bus hielt noch einmal bei McDonald’s und Mithat entschied, dass die Spieler nach dieser Leistung ihre Burger selbst zahlen müssten. Pavi ć evi ć fand das unprofessionell. Die beiden duellierten sich, erst mit Worten, dann mit Blicken.
Kinder ohne Abendbrot ins Bett, notierte ich.
Als wir wieder auf die Autobahn bogen, klappte der Coach seinen Computer auf. »Ich kann es gar nicht erwarten, wieder an die Arbeit zu gehen«, sagte er und starrte auf seinen Bildschirm (Jenkins trifft den ersten Dreier). Man konnte sehen, dass es in Coach Pavi ć evi ć tobte, dass er seine Sicht der Dinge darlegen wollte. Man sah, dass er Worte finden wollte, um der Situation habhaft zu werden. Aber Demirel sah das anders. Er schwieg.
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GENTLEMEN, WE’RE LIVING ON THE EDGE
HAGEN, 12. JANUAR 2011
DIE KRISE VON ALBA BERLIN HÖRTE NICHT AUF, sie wurde immer schärfer. Die Mannschaft war nach der höchsten Niederlage der Vereinsgeschichte direkt zum Rückspiel gegen Samara nach Russland geflogen. Die Zeitungen hatten Konsequenzen gefordert, manche subtil, manche explizit. Die Vereinsführung schwieg noch. Marco Baldi flog nach Brasilien, weil er dringende Familienangelegenheiten klären musste. Axel Schweitzer verbrachte einige Tage mit seiner Familie in Australien. Nach dem vorzeitigen Weiterkommen im Eurocup hatte man ursprünglich entschieden, einigen Spielern kurz vor Weihnachten die strapaziöse Reise nach
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