Gentlemen, wir leben am Abgrund
für die kleineren Clubs der Liga besondere Spiele. Die Halle war ausverkauft. Die ersten Fans betraten den sogenannten Heuboden, die Stehplätze ganz oben unter dem niedrig hängenden Dach. Sie befestigten ihre Banner, sie schleppten ihre Trommeln in die Halle. Ich sah mir die Stehplätze an, auf denen wir früher gejubelt und gelitten hatten. Unten auf dem Parkett machte Sven Schultze seine körperstabilisierenden Übungen. Unter dem Hagener Korb dehnte sich mein alter Mannschaftskamerad Bernd Kruel, mittlerweile der dienstälteste Bundesligaprofi.
Hier war alles improvisiert oder ehrenamtlich, die Dinge wurden gemacht, wie sie immer schon gemacht worden waren, wie 1974 und 1994, wie zu Zweitligazeiten und im Jahr nach dem Aufstieg. Der Getränkeautomat stand nicht mehr an der Treppe zum Foyer aber in den Katakomben wurden Bierkisten hinter die Theke gewuchtet, es gab Iserlohner Bier und Bockwurst mit Senf. Frikadellen. Ich trank ein Bier mit meinem Vater und meinem ehemaligen Deutschlehrer Schneider. Das Foyer füllte sich, und ich erinnerte mich an den Rauch der Zigaretten 1985 (damals wurde in Sporthallen noch geraucht). Jetzt waren die Türen geöffnet und das Publikum schüttelte die Schirme aus. Die Vorfreude auf das Spiel heute Abend war ihnen anzusehen. Sie freuten sich auf Berlin. Sie freuten sich auf Hagen, auf ihre eigene Geschichte. Sie erzählten sich diese Geschichte immer wieder neu, sie beschworen sie: der Underdog, der gegen den reichen, riesigen Großstadtclub gewinnen würde. Sie würden es zumindest versuchen. David und Goliath, Gallier undRömer, Jerry und Tom. Sie liebten ihre Hoffnung auf das Wunder. Sie liebten ihre Spieler dafür, dass sie nur 2000 Euro im Monat verdienten, plus Kleinwagen und Wohnung, und sich trotzdem gegen den Abstieg stemmten. Sie würden den hoch bezahlten Profis von Alba Berlin heute Abend alles entgegenwerfen, was sie hatten. Die Zuschauer liebten ihr Flaschenbier, sie waren Sportromantiker. Ich war hier Nostalgiker. Kurz vor Spielbeginn wurde mir im Foyer der Hagener Ischelandhalle klar, warum wir diese Geschichte immer wieder hören wollten. Sport ist eine große Metapher für das Leben, Basketball ist rührend, bewegend und groß. Immer wieder neu und immer unvorhersehbar.
Berlin und Hagen könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Hagener Halle fasst 3300 Zuschauer, in die O2 World passen 14.500. Die Infrastruktur in Berlin ist durchprofessionalisiert, Catering, Ticketing, Sicherheitsdienst, jeder Mitarbeiter wird bezahlt. In Hagen helfen alle freiwillig mit. In Hagen will man nicht absteigen, in Berlin ist der Anspruch jedes Jahr aufs Neue der Titel. In Hagen ist Basketball die einzige große Publikumssportart auf Erstliganiveau, in Berlin gibt es die Eisbären, die Füchse und Hertha. In Berlin hat man sich entschieden, deutschen Basketball auf eine wirtschaftlich und infrastrukturell neue Ebene zu heben. Man will auf lange Sicht konkurrieren können: mit der Vielfalt der Möglichkeiten in der eigenen Stadt und mit den europäischen Basketball-Schwergewichten. Man ist in eine riesige Halle gezogen. Man hat ein Jugendprogramm entwickelt, das nichts weniger versucht, als das deutsche Denken über Kinder und Sport zu revolutionieren. Mehrere außergewöhnliche Trainingshallen sind gebaut worden. Man will sich breit aufstellen und idealistisch denken. Es geht um einen breiten Enthusiasmus für den Sport. Man hat sich in der Stadt verankert, und die Profis haben den höchsten Zuschauerschnitt Europas.
Die Kehrseite war: Man hatte sehr viel Platz. Wenn sie nicht ausverkauft war, konnte die O2 World zu groß und ausgedacht wirken, als wäre sie aus amerikanischem Plastik. Also musste man die Halle voll bekommen. Der ehrgeizige Rahmen musste mit authentischen Emotionen gefüllt werden, wie sie in den kleinen Hallen der Liga automatisch gegeben waren. Dazu brauchte man gute Geschichten, gute Protagonisten und natürlich sportlichen Erfolg.
Luka Pavi ć evi ć wollte auf höchstem Level Basketball spielen. Es ging ihm nicht nur um Siege und Titel in Deutschland und Europa, sondern auch um das basketballerische Niveau seiner Mannschaft. Es ging ihm um das perfekte Spiel, the proper game.
Spiele wie heute waren für ihn eine Last. Pavi ć evi ć meinte das ohne jede Arroganz, denn ihm gefiel die Geschichte des Underdogs ebenfalls. Im Film, in der Literatur. Aber er hasste es, gegen Mannschaften anzutreten, die nicht gewinnen mussten. Teams, die ausgeruht waren, weil
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