Gentlemen, wir leben am Abgrund
seinen Mut und verschwindet in einem Haus mit Rotlicht. Wir anderen folgen ihm, weil wir nicht wissen, was wir sonst machen sollen. Vielleicht gibt es da drinnen ja etwas zu essen. Mein Mannschaftskamerad zeigt unser Geld. ›Das reicht für einen‹, sagt die ledergesichtige Frau am Tresen. Sie spricht kein Englisch und unsere erste Fremdsprache ist Russisch, was sie auch nicht versteht. Wir unterhalten uns mit den Händen. Sie hält einen Finger in die Höhe. ›Einer‹, sagt sie, und wir verstehen: Unser Geld reicht nur für einen. Wir ziehen Streichhölzer und mein Mannschaftskamerad gewinnt. Vielleicht hat er gemogelt, aber wir sind erleichtert. ›Viel Spaß‹, sagen wir, wie Teenager neidisch tun. Mein Kamerad sieht aus, als würde er zögern, aber er tut völlig sicher. An der Treppe dreht er sich kurz um und lacht, dann verschwindet er mit der hübschesten Dame nach oben. Wir anderen bestellen Wasser. Ich will höflich sein und mache Konversation mit der alten Dame hinter der Bar. Absurd! Ein Wasser! Im Puff! In Hagen! Wir warten zehn Minuten, zwanzig. Ich frage nach etwas zu essen, und die Dame serviert Pistazien. Wir warten dreißig Minuten, langsam werden wir nervös. Unser Kamerad kommt nicht wieder runter. Ich werde wütend. Nicht, weil mein Kamerad seine Heldengeschichte von fantastischem Sex erzählen wird. Ich trinke ein überteuertes Wasser, ich führe eine seltsame Unterhaltung. Ich werde wütend, weil er mein Geld für seine Idee ausgibt, weil ich ihm hinterhergerannt bin. Weil er mich warten lässt. Weil ich in einer Situation bin, die ich mir nicht selbst ausgesucht habe. Weil ich den Ausgang der Dinge nicht beeinflussen kann. Wir warten noch einmal zehn Minuten, und gerade, als ich gehen will, poltert es die Treppe herunter. Es gibt ein Gebrüll und Gebell und drei riesige Typen tragen meinen Kameraden an mir vorbei, die Trainingshose der jugoslawischen Nationalmannschaft hängt um seine Knöchel. Mein Kamerad ist ein dünner, drahtiger Spieler. Die drei Kolosse können ihn mit Leichtigkeit hochheben. Hinter ihnen rennen drei kreischende Damen, eine hat drei kleine hysterische Hunde an der Leine. Die Köter kläffen wie irre. ›Ich habe bezahlt‹, brüllt mein Kamerad, während die Kolosse ihn durch den Laden und auf die Straße tragen, ›ich habe ein kapitalistisches Recht, fertig zu werden!‹ In seinem jugendlichen Größenwahn hatte sich mein Kamerad vorgenommen, die Dame mit seiner Ausdauer zu beeindrucken. Aber Zeit ist Geld, und dieDame hatte unserem Kameraden völlig unbeeindruckt gesagt, er müsse sich beeilen. Aber mein Kamerad hatte die ganze Zeit an etwas Beängstigendes und nicht im Entferntesten Attraktives gedacht. ›Der Trainer‹, sagte er mir später. ›Ich hatte die ganze Zeit den Trainer im Kopf.‹ Die Kolosse setzten meinen Kameraden vorsichtig auf die Straße, wir anderen verabschiedeten uns von der Dame am Tresen. Wir rannten hinterher. Das war Hagen.«
Der Coach stand auf, trank sein Bier aus und schlug mir auf die Schulter. »Diesmal war’s nicht viel anders, oder?«, fragte er. »Wir sind hinterhergerannt, die anderen haben Entscheidungen getroffen, und am Ende standen wir im Regen.« Luka Pavi ć evi ć nickte und grinste und verschwand im Aufzug. Der Coach war ein guter Geschichtenerzähler, komisch und selbstironisch, er beherrschte seine Anekdoten und Metaphern. Sogar nach einer Niederlage. Und wie jeder gute Geschichtenerzähler erfand er Teile seiner Geschichte, damit ihre Botschaft klar wurde. Wie wir alle. Ich sah zu, wie sich die Türen hinter ihm schlossen. Als ich das Hotel verließ, um nach Hause zu fahren, lagen die beiden Tischtennisschläger von heute Nachmittag noch immer auf der leeren Platte in der Lobby. Niemand spielte, das Spiel war entschieden.
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NIJE MENE DUŠO UBILO
BERLIN, 21. JANUAR 2011
AM LETZTEN ARBEITSTAG VON LUKA PAV I Ć EVI Ć rannten Konsti und ich durch den Tiergarten. Wir nahmen die große Runde und redeten wenig. Vorbei an der Siegessäule, vorbei am Zoo, ein Esel schrie. Die Sonne schien, die Geier kreisten in ihrem Gehege.
Nach der Niederlage in Hagen war in den Zeitungen von »Kontrollverlust« die Rede gewesen und die Bildzeitung hatte unverblümt Konsequenzen für den Trainer gefordert. Die Mannschaft hatte sechs Tage später das Rückspiel gegen Phoenix Hagen sehr deutlich mit 108:78 gewonnen. 108 Punkte war die höchste Punktzahl gewesen, die Alba jemals in der O2 World erzielt hatte. Hagen war
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