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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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weil Basketballspiele aus Läufen bestehen, sah es beim 16:23 schon wieder ganz anders aus. Die Hagener begannen, über das ganze Feld Druck zu machen, sie warfen schnell und immer schneller. Die Halle hatte das Kopfschütteln eingestellt. Zur Halbzeit hatte Hagen zehn Punkte Vorsprung.
    In der zweiten Hälfte wirkten Pavi ć evi ć und sein Team steif und verkrampft. Die Zuschauer hinter der Berliner Bank pfiffen bei jeder Gelegenheit, zu jeder Beschwerdegeste, bei jedem Wechsel. »Halt die Fresse und setz dich hin!«, brüllte ein rotgesichtiger Anwalt, den ich noch von früher kannte. Pavi ć evi ć wollte die Kontrolle, aber dieses Spiel und diese Situation ließen sich nicht kontrollieren. Die Hagener rannten und warfen, sie suchten und fanden Zuflucht im Angriff, sie opferten hinten leichte Körbe, um vorne selbst schnell abzuschließen. Ihre Dreier fielen. Der junge Power Forward Andreas Büchert war kein guter Basketballspieler, aber er brach sich die Nase und spielte trotzdem weiter.
    Pavi ć evi ć beharrte auf der Kontrolle seiner Mannschaft, aber seine Spieler rannten den Hagenern lediglich hinterher. Derrick Allen punktete wie eine Maschine, alle anderen trafen schlecht. Trotzdem kam es zu einer Aufholjagd, Berlin ging sogar 65:63 in Führung. Marinovi ć war gegen den schnellen und unkonventionellen Hagener Guard David Bell überfordert, aber der Coach setzte seinen eigenen unkonventionellen und schnellen Aufbauspieler Heiko Schaffartzik partout nicht ein. Es schien ums Prinzip zu gehen, um Positionen. Es ging hin und her, aber dann machte Hagen die wichtigen Punkte und Alba beging zwei unsportliche Fouls. Am Ende verlor Alba gegen Phoenix. 92:86.
    Vor dem Getränkeautomaten im Kabinengang kam es zu dünnhäutigem Gerangel zwischen Femerling und dem Hagener Manager Herkelmann. Ich bemerkte, dass mir das Ergebnis des Spiels nicht egal war, ich freute mich für die Hagener, weil sie sich ihre Geschichte in voller Länge erzählt hatten. Die Spieler hatten sich ein Megafon geschnappt und mit den Fansauf dem Heuboden gesungen, das Lied von der Legende, die wir Sportromantiker hören wollen.
    Ich trank noch ein Bier mit meinem Vater, wir tranken auf den überraschenden Sieg. Ich freute mich, aber ich hatte auch gesehen, dass Albas Manager die Halle nach dem Spiel schnell verlassen hatten und Coach Pavi ć evi ć draußen allein im Regen stand. Fast ein Gleichnis, fast eine Metapher. Luka Pavi ć evi ć ahnte, was in den nächsten Wochen kommen würde. Aber er sprach nicht von diesen Dingen, er lächelte. »Congratulations«, sagte er, »dein trauriges Herz hat gewonnen.«
    Ich weiß nicht mehr, was es zum Abendessen gab, aber es war ein konzentriertes Löffeln und Kauen und Schlucken. Professor Mika platzierte seine Brille fein säuberlich neben den Teller. Die Spieler standen schnell wieder auf und verschwanden auf ihre Zimmer.
    Der Coach und ich tranken noch ein Bier, Mika blieb beim Wein. Luka sprach wenig. An der Oberfläche schien er der Situation gemäß wütend, aber als das Team im Bett war, verflüchtigte sich seine Wut. Seine Konzentration blieb. Er machte sich einige Notizen auf einer Serviette. Als der Speisesaal fast leer war, lehnte er sich zurück.
    »Hagen«, sagte er und grinste. Er sah sich um. »Hör zu, ich erzähle dir eine Geschichte«, also hörte ich zu. »Ich war in den 1980er-Jahren zum ersten Mal hier. Die jugoslawische Juniorennationalmannschaft spielte hier ein paar Freundschaftsspiele gegen die Deutschen. Ich war der Jüngste. Wir wohnten in diesem Hotel, ich erinnere mich genau. Damals war alles noch grün und gelb hier. Der Teppich, die Stühle, alles. Am Abend vor unserer Rückreise hatten wir noch Geld übrig. Und dort unten«, Pavi ć evi ć deutete Richtung Eingang, Richtung Kratzkopf, Richtung Fluss. Er lachte und schüttelte den Kopf. »Dort unten gab es die Bordelle der Stadt. Ein Mannschaftskamerad wollte das Geld zu einer Hure tragen, es sei nicht viel, aber es würde reichen. ›Lass uns etwas essen gehen‹, sagte ich, ›vielleicht später etwas trinken?‹ – ›Die Damen bekommen ja nicht den üblichen fetten Deutschen‹, scherzte mein Mannschaftskamerad, ›Sie bekommen einen Sportler. Beide Seiten gewinnen. Das ist besser, als das Geld mit nach Hause zu nehmen‹, sagte er. Wir gehen also runter zum Fluss und laufen die Straße entlang, drei oder vier von uns. Wir rennen zögerlich hin und her, wie Teenager nun malso sind, und irgendwann sammelt mein Kamerad

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