Gentlemen, wir leben am Abgrund
Innenstadt, vom riesigen Kreisverkehr vor dem Hotel drang das Hupen bis nach oben. Auf der Verkehrsinsel standen ein paar ramponierte Palmen und Orangenbäume.
Ich hatte die Mannschaft am Flughafen von Palma de Mallorca getroffen, wir waren gemeinsam nach Sevilla geflogen. Im Anflug hatten wir einen Bogen über die Altstadt gemacht, kleine Gassen und prachtvolle Gebäude, eine Stierkampfarena von oben.
Aber dann waren wir mit dem Bus an den Rand der Stadt gefahren, in eine Hochhaussiedlung, eine halbe Stunde entfernt vom Zentrum. Das Hotel war hoch und schlicht, viel mehr gab es nicht zu sagen. Viel Beton in spanischem Rosa, eine Auffahrt aus Pflasterklinker, ein paar Palmen vor der Tür. Das Internet und die Aufzüge stockten, der Berliner Speiseplan war zur Unkenntlichkeit variiert. Auf der anderen Straßenseite gab es eine Kaffeebar, direkt daneben einen provisorischen Kindergarten in einem rostigen Eurocontainer. Die Spieler hatten Sonnenbrillen getragen und waren in den Zimmern verschwunden und erst wieder zum Abendtraining aufgetaucht.
In der Lobby wartete Konsti. Wir tranken einen Kaffee in der Hotelbar und liefen los. In den turbulenten letzten Wochen waren der Assistenztrainer und ich immer regelmäßiger laufen gegangen. Konsti war ein perfekter Laufpartner. Am Anfang des Laufes konnte man mitihm schweigen, in der Mitte unterhielten wir uns über alles, was anstand, über Filme, die wir gesehen hatten, Bücher, die wir lasen (er las viel mehr als ich), über die Schwangerschaft meiner Frau, über seinen Sohn und über die Taktik des nächsten Gegners. Am Ende der Strecke liefen wir schneller, das Gespräch versiegte, wir keuchten. Wir liefen durch den Berliner Tiergarten, wir liefen durch den Nieselregen von Caserta, wir rannten in Hagen und Oldenburg, wir liefen auf den Laufbändern im Trainingszentrum. Wenn wir angekommen waren, hatte ich immer etwas verstanden, die Philosophie eines Spielsystems, einen Kinofilm oder die besonderen Stärken eines Spielers. Jetzt liefen wir zwischen den morgendlichen Wohntürmen am Rande von Sevilla. Wir folgten der Schnellstraße, die Betonburgen wurden zu flachen Lagerhäusern, alle im gleichen matten Licht des Morgens. Wir gerieten in ein Industriegebiet. So früh morgens war es auch hier noch kühl, aus den Schornsteinen quoll wattiger Dampf. Es roch nach Industriefeuer.
Luka Pavi ć evi ć war seit zehn Tagen nicht mehr Trainer von Alba Berlin. Konsti war direkt nach Lukas Rede mit dem Taxi zum Flughafen gefahren und hatte Derrick Allen, Immanuel McElroy und Julius Jenkins die Nachricht überbracht. »Du hättest Julius’ Reaktion sehen sollen«, lachte er. »Ein Gesicht für die Ewigkeit.« Wie Julius reagiert hatte, sagte er nicht. Ich stellte mir vor, dass Jenkins vom Abschied seines Coaches geschockt war.
Die vier hatten das Wochenende beim All-Star-Spiel verbracht, die Mannschaft hatte ein paar Tage in der Luft gehangen. Mithat und Baldi hatten die All-Star-Woche auf der Suche nach einem neuen Trainer vertelefoniert. Eine Woche lang war spielfrei. Niemand hatte gewusst, wie es weitergehen würde. Professor Mika begann plötzlich, Englisch zu lernen. Coach Bobby packte seine Sachen, weil er sicher war, dass der nächste Trainer seine eigenen Assistenten mitbringen würde. »That’s the job«, sagte er. »I’ll be back in Skopje in no time.« Ein paar Tage lang leiteten Bobby und Konsti das provisorische Training, die Spieler arbeiteten mit Professor Mika an ihrer Athletik und versuchten, ihre Körper zu reparieren. Die Spekulationen um den neuen Trainer begannen. Die Journalisten versuchten eine Weile, die Spieler zum Nachtreten zu bewegen und sich schlecht über Coach Pavi ć evi ć zu äußern, aber alle blieben diplomatisch. Eine Entscheidung war gefallen, aber alle wussten, dass man sich wiedersehen würde.
An einem perfekten Berliner Wintertag machte Konsti reinen Tisch. Tabula rasa. Eis und Licht und Schnee vor dem Trainingszentrum in der Schützenstraße. Er hatte erfahren, dass der neue Coach allein nach Berlin kommen würde. Er war Israeli, so viel wussten wir. Headcoaches arbeiten oft mit ihrem eigenen Trainerstab, sie ziehen gemeinsam von Station zu Station. Wenn Coach Bobby von »meinem Coach« sprach, meinte er Sašo Filipovski, mit dem er in Russland und Polen gearbeitet hatte. Diesmal würden Bobby und Professor Mika bleiben. Konsti war die Konstante, der neue Headcoach wäre der dritte, dem er assistieren würde.
Der nächste Coach war
Weitere Kostenlose Bücher