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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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chancenlos.
    Der Bundespräsident Christian Wulff und seine Familie waren in der Halle gewesen, nach dem Spiel hatten Coach Pavi ć evi ć und Femerling Wulff die Hände geschüttelt und gelächelt. Der Coach hatte unverkrampft und souverän gewirkt, die Kinder hatten sich hinter dem Präsidenten versteckt.
    Das Auftaktspiel im Eurocup TOP 16 bei Benetton Treviso zwei Tage später hatte das Team dann wieder verloren. Die erste Niederlage in Europa! Die Presse war sofort wieder in Stellung gegangen, sie hatte die Kritik am Coach erneuert. »Wie lange sitzt Schaffartzik noch auf der Alba-Bank?« hatte die BZ gefragt. Pavi ć evi ć und die Deutschen, das ewige Thema. Jetzt war erstmal All-Star-Break. Heute würden Derrick Allen, Julius Jenkins und Immanuel McElroy beim Training fehlen, sie waren für das Spiel der Besten nominiert. Konsti würde gleich ebenfalls zum Flughafen fahren. Der Rest des Teams sollte die erste längere Pause seit Wochen nutzen, um seine Blessuren auszukurieren und gut zu trainieren.

    »Ich habe einen Titel für das Buch«, keuchte ich, als wir am großen Stern abbogen.
    »Der wäre?«, fragte Konsti.
    »Gentlemen, wir leben am Abgrund«, sagte ich. »Das hat Luka in Hagen gesagt. Gentlemen, we’re living on the edge. Passt das?«
    »Passt«, sagte Konsti. »Passt besser, als du denkst.«
    Luka kam frisch rasiert ins Trainingszentrum. Er trug Zivil, schwarze Winterjacke, Pullover und eine Wollmütze, die ihn plötzlich gesund aussehen ließ. Er betrat die Halle gemeinsam mit Marco Baldi und sofort änderte der Raum seine Temperatur. Alle wussten, dass etwas passieren würde.
    Als der Coach und Baldi die Halle betraten, verstummten die Spieler. Die beiden gingen zielstrebig zum Mittelkreis. Als der Coach in die Hände klatschte, wie er es immer zur Eröffnung des Trainings tat, kamen die Spieler zusammen. Man sah, dass sie wussten, dass es heute keine einfache Ansprache geben würde. Es ging um mehr. Ich saß am Rand und beobachtete, wie der Raum seine Dimensionen änderte. Vorher war hier trainiert worden, der Raum war begreifbar gewesen, hölzern und begrenzt, einfach eine renovierte Turnhalle in Berlin-Mitte. Plötzlich lag eine unerwartete Solidarität in der Luft. Und plötzlich wirkte der Mittelkreis wie eine Insel, die Halle weit. Die Spieler und ihr Trainer standen in der Mitte des Trainingszentrums, in der Mitte ihrer Saison. Und sie standen am Ende einer gemeinsamen Idee. So kam es mir vor.

    »Wir haben uns entschieden, Luka von seiner Aufgabe als Headcoach von Alba Berlin freizustellen«, sagte Marco Baldi, und seine Worte verebbten nur langsam in der leeren Halle. Die Mannschaft hielt den Atem an. Es fiel ihm nicht leicht, den Trainer zu entlassen, den er noch im Sommer gegen alle Widerstände verteidigt hatte.
    Die Spieler wirkten geschockt. Sie hatten über Luka Pavi ć evi ć geschimpft, wie Schüler immer über ihren Lehrer schimpfen, wenn es nicht gut läuft. Sie hatten ihn bisweilen fast verflucht, seine Methoden und seine Entscheidungen, seine Rituale und seine Sturheit, sein akribisches Beharren auf Details. Sie hatten ihre Witze gemacht, wie man immer über Autoritäten Witze macht, harmloser Spott von unten nach oben. Sie hatten sein rollendes R imitiert, sein manchmal martialisches Vokabular, seine Formulierungen, seine Sprüche. Sie hatten einen Menschen imitiert, den sie gründlich respektierten, die strengsten Lehrer sind im Rückblick immer die besten. Mit seiner Entlassung hatte niemand gerechnet.
    »Das ist eine harte Entscheidung und bedeutet tief greifende Veränderungen für jeden von uns«, sagte Marco Baldi und nickte dem Coach zu. »Ich möchte Luka das Wort übergeben.«
    »Gentlemen«, sagte Luka Pavi ć evi ć mit klarer Stimme, »ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. Ich habe oft über die Schwierigkeiten dieses Lebens und unserer Arbeit gesprochen. Wir werden ständig getestet, dieses Leben ist eine ständige Prüfung. Gleiches gilt für unsere Arbeit. Wer in diesem Job nicht zäh und hart genug ist, muss mit den Konsequenzen rechnen.« Luka Pavi ć evi ć ließ sich Zeit. Er sah seine Spieler an, er rieb sich die Hände wie immer, er wippte leicht von einem Bein auf das andere. Wie immer. Er stand aufrecht in der Mitte seinerSpieler, kerzengerade, würdevoll fast. Er schien zu lächeln, er sah sich um. Femerling sah direkt zurück. »Gentlemen, ich liebe diesen Job. Ich habe sehr gerne mit euch zusammengearbeitet. Wir werden uns wiedersehen, das

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